Nr. 10/2018
Aufmerksamkeitstests am Gipfel des Mt. Kilimanjaro
Wer in den Bergen nicht zu 100 Prozent konzentriert und aufmerksam ist, der begibt sich schnell in Gefahr. Das Wetter, die Kletterpartner, das Equipment, die Beschaffenheit des Untergrunds – vieles gilt es wahrzunehmen und zu beachten. Eine falsche Entscheidung oder ein falscher Schritt können fatale Folgen haben: Stürze, Verletzungen oder Schlimmeres. Vor allem in großen Höhen über 6.000 m bewirkt der geringere Sauerstoffpartialdruck nicht nur Veränderungen der körperlichen Leistungsfähigkeit, sondern auch eine Verschlechterung der kognitiven Funktionen. In einer aufwändigen Pilotstudie hat Mirjam Limmer vom Institut für Natursport und Ökologie untersucht, wie Hypoxie (verminderte Sauerstoffaufnahme) und langandauernde Belastung die Aufmerksamkeitsleistungsfähigkeit in hohen und extremen Höhen beeinflussen.
Für die Studie, deren Ergebnisse Mirjam Limmer nun in ihrem Paper „The influence of hypoxia and prolonged exercise on attentional performance at high and extreme altitudes: A pilot study” veröffentlicht hat, reiste die Bergsportlerin nach Norwegen und bestieg den Kilimanjaro in Tansania. Über mehrere Jahre erstreckte sich die Durchführung dieser einmaligen Pilotstudie. Dabei machte sich die Feldstudie die Tatsache zunutze, dass bei einer Höhenexposition der Sauerstoffpartialdruck exponentiell zur steigenden Höhe sinkt. Zahlreiche Studien belegen bereits, dass diese hypoxischen Bedingungen zu kognitiven und physiologischen Veränderungen führen. Und zwar betrifft dies verschiedene kognitive Funktionen des Menschen, zum Beispiel das Arbeitsgedächtnis, die Lernfähigkeit, das Reaktionsvermögen oder die Entscheidungsfähigkeit.
Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts berichteten Bergsteiger davon, dass sie am Berg ihre mentalen Fähigkeiten als beeinträchtigt empfinden, sprachen z.B. von einer reduzierten Konzentrationsfähigkeit. „Am Berg ist es wichtig, die richtigen Entscheidungen zu treffen, Situationen und Gefahren adäquat einschätzen zu können, die Bedingungen und die Umgebung realistisch wahrzunehmen, aufmerksam und konzentriert zu bleiben”, schildert Limmer die grundlegenden Herausforderungen des Bergsports.
Die Ausgangslage für ihre Studie beschreibt sie so: „Es gibt bereits eine Reihe von Untersuchungen zur kognitiven Leistungsfähigkeit unter Hypoxie, allerdings sind diese in der Regel sehr laborbezogen und weniger praxisbezogen. Unsere Idee war daher, die Effekte in der Praxis, sprich im Feld, zu untersuchen.” Bei künstlich geschaffenen hypoxischen Bedingungen, zum Beispiel in einer Höhenkammer, spricht man von normobarer Hypoxie. „Diese Form der Hypoxie ist viel einfacher herzustellen; daher bedienen sich die meisten Studien dieser Laborbedingungen”, erklärt Limmer. Nur wenige Studien würden sich mit den Auswirkungen beschäftigen, die auf den Bergsteiger in der realen Umgebung wirken, wenn er in großen Höhen unterwegs ist. Limmers Ansatz: Den Zusammenhang von Aufmerksamkeitsfähigkeit, Höhenexposition und körperlicher Belastung im Feld zu testen und diese Felddaten bestmöglich zu standardisieren. Die Aufmerksamkeitsleistungsfähigkeit wählte das Untersuchungsteam als Fokus aus, weil diese Funktion einerseits eine große praktische Relevanz im Bergsport hat, es andererseits aber „erstaunlich wenige Untersuchungen” dazu gibt.
Das Studiendesign bestand aus einem Viergruppendesign mit einer Hauptuntersuchungsgruppe und drei Kontrollgruppen. Die Hauptuntersuchungsgruppe, die eine Exkursion auf den Mt. Kilimanjaro absolvierte, war einer hypobaren Hypoxie (hypoxia, HYP) bei langandauernder Belastung (prolonged exercise, EX) ausgesetzt (HYP + EX, n=15). Die HYP-Gruppe war einer akuten Hypoxie in einer Höhenkammer ausgesetzt, allerdings ohne körperliche Belastung (n=25). Eine weitere Gruppe absolvierte eine siebentägige Norwegen-Exkursion und war somit einer langandauernden Belastung auf Normalnull ausgesetzt (EX, n=21). Die vierte Gruppe war weder Hypoxie noch Belastung ausgesetzt (NOR, n=21). Alle vier Gruppen hatten innerhalb von 16 Tagen zu vier Messzeitpunkten einen Aufmerksamkeitstest (Frankfurt Aufmerksamkeits-Inventar FAIR2) zu absolvieren: einen Pre-Test (D1), den zweiten Test nach 14 Tagen (D14), den dritten Test nach 16 Tagen (D16) und den Post-Test am 18. Tag (D18). „Der Frankfurter Aufmerksamkeits-Inventar ist ein psychologischer Paper-Pencil-Test zur Erfassung interindividueller Unterschiede in Aufmerksamkeitsleistung und Konzentrationsfähigkeit. Es handelt sich dabei um einen so genannten Diskriminationstest, das heißt: Man muss möglichst schnell und präzise visuell ähnliche Zeichen voneinander unterscheiden“, erläutert die Studienleiterin.
An den zwei mittleren Testzeitpunkten, D14 und D16, waren bei den Hypoxie-Gruppen (Kilimanjaro und Höhenkammer) zwei Höhenstufen integriert: Die TeilnehmerInnen der Kilimanjaro-Exkursion absolvierten den Aufmerksamkeitstest auf 3.950 m (D14) und 5.739 m Höhe (D16), die TeilnehmerInnen in der Höhenkammer auf simulierten 3.500 m (D14) und 5.800 m Höhe (D16). „Anhand des Viergruppendesigns haben wir versucht, die Parameter zu extrahieren und Rückschlüsse auf die Untersuchung im Feld zu ziehen”, erklärt Limmer das Studiendesign. Die Aufmerksamkeitstests auf zwei unterschiedlichen Höhenstufen durchzuführen sei relevant, weil sich Veränderungen in der Aufmerksamkeitsfähigkeit noch nicht in moderaten Höhen zeigten, sondern erst in hohen bzw. extremen Höhenstufen.
Die Datenanalyse zeigt eindeutige Ergebnisse: „Wir konnten zeigen, dass die Aufmerksamkeitsleistungsfähigkeit in der Kilimanjaro-Gruppe (HYP + EX) in der höchsten Höhenstufe auf 5.800 m sehr stark reduziert ist, auf moderater Höhe von 3.800 m gibt es keinen Effekt. Zudem hat langandauernde Belastung, prolonged exercise, keinen signifikanten Effekt auf die Aufmerksamkeitsleistungsfähigkeit. Aufgrund der Ergebnisse lässt sich vermuten, dass die kognitive Beeinträchtigung eher von dem hypoxischen Reiz verursacht wird und weniger von dem Belastungsreiz”, fast Limmer die Hauptergebnisse zusammen.
In der HYP-Gruppe, die die Tests in der Höhenkammer absolvierte, fanden die Forscherinnen ebenfalls eine verminderte Aufmerksamkeitsleistungsfähigkeit in der höchsten Höhenstufe, während die EX-Gruppe (langandauernde Belastung auf Normalnull) dies nicht zeigte. Demgegenüber zeigte die Kontrollgruppe (NOR, ohne Hypoxie, ohne Belastung) sogar einen Lerneffekt für den Test FAIR. „Das ist ein interessantes Nebenergebnis, das wir für den FAIR feststellen konnten. In der Literatur wird dieser Test im Vergleich Test-Re-Test mit einem sehr guten Korrelationskoeffizienten bewertet; das sieht in unserer Studie anders aus”, schlussfolgert Limmer.
Eine Limitation der Studie sei, erklärt die Wissenschaftlerin, dass die Studie normobare (Höhenkammer) und hypobare Hypoxie (Kilimanjaro) vergleiche. „Dieser Punkt hat in der Diskussion viele Fragen aufgeworfen. Denn mit steigender Expositionsdauer der Hypoxie, wie bei der Kilimanjaro-Tour, gehen physiologische Veränderungen einher, die sich wiederum auf die Aufmerksamkeitsleistungsfähigkeit auswirken könnten. Mit einem weiterentwickelten Studiendesign könnte man die Ergebnisse besser vergleichen”, sagt Limmer. Eine Idee: zwei Untersuchungsgruppen in hypobarer Hypoxie zu testen, einmal mit und einmal ohne körperliche Belastung.
Der Transfer der Ergebnisse in die Praxis sei der nächste Schritt. Limmer: „Wir wollen die Botschaft vermitteln: Vorsicht, die Aufmerksamkeitsleistungsfähigkeit ist in extremer Höhe immens reduziert und zwar unabhängig davon, ob man gut akklimatisiert ist oder nicht.“ Den Praxisbezug für ihre Ergebnisse sieht Limmer vor allem beim klassischen Höhenbergsteigen in extremen Höhen über 6.000 m.
Text: Julia Neuburg