Nr. 1/2019
„Um im Tanz gegenstandsbezogen zu forschen, ist künstlerisches Wissen erforderlich“
Jun.-Prof. Dr. Denise Temme forscht und lehrt am Institut für Tanz und Bewegungskultur in einem Fach, das viele Berührungspunkte mit Wissenschaftszweigen hat, die außerhalb der klassischen Sportwissenschaft liegen: Philosophie oder Theaterwissenschaft zum Beispiel. Dabei hat sie festgestellt, dass in der Tanzforschung oftmals theoretische Grundlagen fehlen, um konkrete Vorgänge zu beschreiben, die Voraussetzung für das Gelingen von (Tanz-)Bewegungen sind.
Frau Temme, Tanz wird im Sportkontext sehr stark als Bereich der künstlerisch-kreativen Praxis betrachtet oder unter pädagogischen Gesichtspunkten als Thema im Schulfach Sport. In welchen Themenfeldern forschen Sie als Wissenschaftlerin?
Tanz und auch Tanzvermittlung sind im Kern künstlerische Gegenstände, doch die sportwissenschaftlich verortete Tanzforschung nimmt fast ausschließlich externe Themen in den Fokus, die mit diesem Gegenstand erst einmal wenig zu tun haben. Fragen wie: Lässt sich mit Tanz Übergewicht reduzieren? Lässt sich der körperliche Verfall durch das Tanzen aufhalten? Wie können Lehrer Tanz zur Förderung von Kooperation verwenden? Das sind empirische Forschungsansätze, Transferaspekte stehen im Mittelpunkt. Ich widme mich einer Forschung, die eher gegenstandsbezogen ist.
Was für einen Ansatz haben Sie?
Statt mit pädagogischen Konzepten wird beispielweise anhand von Künstlertheorien erkundet, was in einem tänzerischen – somit künstlerischen - Vermittlungsprozess wichtig ist. Wann interveniert man während einer Probe? Macht man das, wenn die Tänzer sich streiten? Oder eher, wenn man merkt, dass es an diesem Punkt künstlerisch interessant und spannend werden könnte – oder gerade nicht? Um im Tanz gegenstandsbezogen zu forschen, ist eine künstlerische Perspektive notwendig. In der (Berliner) Theaterpädagogik ist man in diesem Punkt schon weiter. Im Tanz gibt es das Problem, dass es wenige Tanzkünstler gibt, die gerne sprechen und noch weniger, die gerne schreiben. In Themen, die Tanz und Tanzvermittlung in seiner künstlerischen Grundlegung umgehen, finden sich Tanzkünstler – und damit meine ich auch Tanzvermittelnde – kaum wieder. Sie lesen solche Texte nicht. Ein Transfer von Forschung in Anwendung findet damit dann nicht statt.
Was kann Ihre Forschung den Bewegungskünstlerinnen und -künstlern bieten?
Im künstlerischen Prozess stellen sich immer wieder ähnliche Fragen: Wie komme ich zu einer interessanten Bewegungsentwicklung? Warum ist eine Bewegung gut oder künstlerisch überzeugend? Und wie merke ich das? Genau damit beschäftige ich mich. Eine zentrale Frage ist, wann eine Bewegung vom Tanzenden aber auch vom Publikum als gelungen empfunden wird. Woran sehe ich das? Was sind die Parameter für das Gelingen von künstlerischen Bewegungen?
Wie lauten Ihre Antworten?
Es kommt darauf an, wie man den Gegenstand Bewegung und Tanzbewegung auffasst. Welches ist die kleinste Einheit von Bewegung? Legt man bestimmte philosophische Theorien zugrunde, lässt sich die sinnhafte Bewegung als diese kleinste Einheit fassen – nicht etwa der rein körperliche Bewegungsvollzug. Gelingen von Tanzbewegung wäre dann eine Frage der Resonanz beziehungsweise der Stimmigkeit von körperlicher Realisation und Sinn der Bewegung.
Mit welchen wissenschaftlichen Werkzeugen lassen sich diese komplizierten Vorgänge greifen?
Das mache ich in erster Linie mit philosophischen Theorien, immer reflektiert mit Erfahrungswissen von den Künstlern selbst und als teilnehmende Forscherin an entsprechenden Situationen. In erster Linie geht es mir dabei darum, die Grundkonzepte zu hinterfragen. Allerdings habe ich irgendwann gemerkt, dass in der Tanzforschung oftmals theoretische Konstrukte unklar sind oder ganz fehlen. Welche Idee haben wir eigentlich von Bewegung? Von Können und Wissen? Inzwischen ist die Reflektion von Konzepten von Tanz, die Reflektion von Konzepten von Kunst, die Reflektion von Konzepten von Bewegung und Bewegungslernen zum meinem Hauptthema geworden. Das ist zutiefst philosophisch angelegt, nur eben mit dem Schwerpunkt Tanz.
An wen richtet sich diese Form der Forschung?
Hier hat das Institut die gesellschaftliche Aufgabe, Wege der Tanzvermittlung zu beschreiben: Wie geht das Vermitteln? Wie sieht eine Tanzdidaktik aus, die sich mit dem künstlerischen Gegenstand beschäftigt? Das ist mein Feld. Bestimmte Richtungen der Theaterpädagogik begreifen pädagogisches Wissen immer mehr als künstlerisches Wissen. Ich persönlich begreife ein pädagogisches Wissen in Bezug auf Tanz eher als ein reflektiertes künstlerisches Wissen. Der Lehrende muss für seine Interventionen in einen künstlerischen Prozess, in dem sich entsprechende Bildungsprozesse realisieren (sollen), eine Idee dazu haben, was ein künstlerischer Prozess ist.
Müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst Tänzerinnen und Tänzer sein, um diese Art der Forschung zu betreiben?
Das spielt schon eine Rolle. Bei der Improvisation geht es beispielsweise um die Frage: Mit welcher kognitiven Strategie gehe ich das an? Mit welcher Idee von Bewegung? Diese Frage stellt niemand, der nicht aus dem Bereich kommt. Es geht also vielmehr um die Fragen, die gestellt werden.
Um dieses Wissen weiter zu geben, gibt es den Weiterbildungsmaster M.A. Tanz – Vermittlung, Forschung, künstlerische Praxis. An wen richtet sich dieses Angebot?
Das Interessante an dem Master ist die heterogene Gruppe. Zum Beispiel ist im Moment Regina Advento bei uns, die 17 Jahre die Assistentin und Tänzerin von Pina Bausch war und auch nach deren Tod immer noch am Theater in Wuppertal tanzt. Jetzt interessiert sie sich sehr für Tanzforschung und Tanztherapie. Gleichzeitig gibt es Pädagoginnen und Pädagogen sowie Musikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, aber auch ganz andere Leute. Die meisten Teilnehmer arbeiten schon im Tanzbereich und wollen ihre Arbeit auf eine neue Qualitätsstufe heben. Unser Ziel ist es, eine künstlerische Ausbildung mit einer wissenschaftlichen Ausbildung zu verbinden, so dass die Teilnehmer künstlerisch gebildet werden und zugleich wissenschaftlich versiert sind. Damit die Forschung zum Tanz zu den Leuten kommt, die auch in der Praxis heimisch sind.
Interview: Daniel Theweleit