Nr. 1/2022
Kann man Stürze vorhersagen?
Wer schon einmal gestürzt ist, denkt mehr über das eigene Bewegungsverhalten nach und führt automatisierte Bewegungen oft anders aus. Wie es zu Stürzen kommt, wird schon lange aus unterschiedlichen Perspektiven wissenschaftlich untersucht, ein zuverlässiges Vorhersagetool aber fehlt. Ein Parameter zur bewussten motorischen Kontrolle könnte helfen, sturzgefährdete Personen zu identifizieren und Betroffene dabei unterstützen, die eigene Bewegung richtig einzuschätzen.
Wenn Erna Meier (Name geändert) längere Strecken mit ihrem Rollator zurücklegt, dann achtet sie genau darauf, wie sie sich bewegt. Sie denkt darüber nach, wie sie die Füße aufsetzt und wie sie sich hält: „Rücken aufrecht und bloß nicht zu sehr nach vorne beugen“, sagt sie. Erna Meier ist 83 Jahre alt und war – wie sie sagt – immer ein Bewegungsmensch. Seit einem Unfall aber, bei dem sie von einem E-Bike angefahren und verletzt wurde, fühlt sie sich zu Fuß nicht mehr so sicher. Beim Gehen macht sie kleine Schritte und hebt die Beine nicht weit vom Boden ab – und sie denkt viel mehr nach. Seither ist sie auch öfter gestolpert und einmal gestürzt.
Wie Erna Meier geht es vielen Menschen im Senior*innenalter. Aus unterschiedlichen Gründen verlieren sie das Vertrauen in ihre Bewegungen. Eine Folge sind vermehrte Bewegungsunsicherheiten wie häufiges Stolpern oder auch Stürzen. Bis zu 60 Prozent der über 60-Jährigen sind schon mindestens einmal gestürzt. Pro Jahr fallen Menschen in dieser Altersgruppe durchschnittlich 0,7 bis 1,6 Mal. Wissenschaftler*innen beschäftigen sich schon lange damit, wie Stürze entstehen und wie man ihnen vorbeugen kann. Es gibt biomechanische Bewegungsanalysen zum Sturzgeschehen oder sozial-kognitive Befragungen zu Ängsten. Was bisher fehlt, ist ein Faktor, der zuverlässig vorhersagen kann, welche Personen eher sturzgefährdet sind und welche weniger. Ein solcher Kennwert würde helfen, Risikopersonen zu identifizieren und individuelle Maßnahmen zur Vorbeugung entwickeln zu können.
Ziel einer aktuellen Studie des Psychologischen Instituts der Deutschen Sporthochschule Köln war es daher, Anhaltspunkte für einen solchen Vorhersage-Faktor zu finden. Dafür betrachtete ein Team um Dr. Lisa Musculus Stürze aus psycho-motorischer Perspektive. „Studien zum Thema ‚Stürze‘ untersuchen oft eher sozial-kognitive Faktoren, bei denen Angst oder Selbstwirksamkeit bezogen auf das Bewegungsverhalten eingeschätzt wird. Unser Fokus auf psycho-motorische Aspekte bringt über das Reinvestment-Konstrukt die Bewertung der eigenen motorischen Leistungsfähigkeit und Bewegungsaufmerksamkeit mit rein. Reinvestment bedeutet, dass man zusätzlich Aufmerksamkeit in eine Bewegung investiert, die eigentlich automatisiert abläuft; zum Beispiel das Gehen. Man denkt mehr darüber nach, wie man die Bewegung ausführt. Das ist nicht unbedingt funktional und kann sogar zu Bewegungsfehlern führen. Neu ist in unserem Ansatz, dass wir Fragen zur Bewegungskontrolle stellen und hier die subjektive Einschätzung betrachten, nicht die objektive wie z.B. in Form von Gangkinematik“, erklärt Musculus. Schon in ihrer Bachelorarbeit beschäftigte sie sich mit dem sogenannten bewegungsbezogenen Reinvestment und wie man es messbar machen kann.
In ihrer Studie begleiteten die Wissenschaftler*innen 21 Menschen im Alter von 75 bis 96 Jahren zwei Monate lang. 17 von ihnen waren in der Vergangenheit bereits gestürzt. Um die Teilnehmer*innen vor Interventionsbeginn in die zwei Gruppen „sturzgefährdet“ und „nicht sturzgefährdet“ einteilen zu können, wurden sie mit Hilfe der sogenannten bewegungsspezifischen Reinvestment-Skala befragt. Die Skala hilft, messbar zu machen, wie sicher sich die Studienteilnehmer*innen bewegen und wie intensiv sie über ihre Bewegungen nachdenken. In insgesamt neun Bereichen werden Fragen zum Bewegungsverhalten gestellt. In vier davon geht es um Aspekte des bewegungsbezogenen Selbstbewusstseins (engl.: movement self-consciousness – „Ich mache mir Gedanken darüber, was die Leute denken, wenn ich mich bewege.“), in fünf um die bewusste motorische Verarbeitung (engl.: conscious-motor-processing – „Ich denke über meine Bewegungen nach, wenn ich sie ausführe.“). Die Befragten gaben ihre Zustimmung zu den Statements auf einer sechsstufigen Skala von „stimme überhaupt nicht zu“ bis „stimme voll zu“ an. Wer mehr über die eigene Bewegung nachdenkt und weniger selbstbewusst ist, hat vielleicht ein höheres Risiko zu stürzen, so die Annahme der Forschenden: diese Personen wurden in die Gruppe „sturzgefährdet“ eingeteilt. Wer sich selbstbewusst bewegt und kaum über automatisierte Bewegungen nachdenkt, ist weniger gefährdet. Die allgemeine körperliche Leistungsfähigkeit wurde vorab mit einem Bewegungstest mit drei Aufgaben (vier Meter gehen, Aufstehen vom Stuhl, Balance) untersucht. Während der zweimonatigen Intervention wurde das tatsächliche Bewegungsverhalten selbstständig durch die Studienteilnehmenden erfasst. Hierzu notierten sie ihr Bewegungsverhalten jeden Tag in einem Tagebuch. Etwaige Bewegungsunsicherheiten wurden in den Kategorien „Sturz mit Verletzung“, „Sturz“, „Stolpern“ und „nichts passiert“ erfasst.
Die Auswertung zeigt: Während des Interventionszeitraums stürzten fünf Personen zum Teil mit Verletzungsfolgen. Zwölf stolperten. Auffällig war, dass Personen, die im Untersuchungszeitraum gestürzt oder gestolpert waren, bei der Befragung vorab tatsächlich überwiegend einen höheren Wert – also eine höhere Zustimmung zu den Aussagen im Teilbereich der bewussten motorischen Verarbeitung – erzielt hatten. Sie hatten signifikant häufiger bewusst über ihre Bewegungen nachgedacht. Wie selbstbewusst sie in ihrer Bewegung waren, machte keinen Unterschied im Hinblick auf spätere Sturzgeschehen. „Nach Ablauf der Pre-post Studie haben wir überprüft, wie viele Personen wir richtig in die beiden Kategorien einordnen konnten. Basierend auf den Werten, die wir analysiert haben, konnten wir 75 Prozent der Personen richtig in die Gruppen einteilen“, beschreibt Musculus die Studienergebnisse. Die entsprechenden Fragen der Reinvestment-Skala in der Sturzprophylaxe einzusetzen, wäre, der Wissenschaftlerin nach, ein vielversprechender Weg und könne ohne großen Mehraufwand umgesetzt werden. Dafür müsse man die Ergebnisse aber noch in einer größeren Studie absichern. „Prinzipiell wäre es eine Chance, den Fragebogen schon jetzt einzusetzen. Dadurch könnte man vorab individuell mit den eventuell Betroffenen sprechen und ihnen helfen, über die Reduktion von Reinvestment durch konkrete motorische Übungen eine realistische Bewegungseinschätzung zu vermitteln und darüber gegebenenfalls auch die Selbstwirksamkeit zu steigern und Angst zu reduzieren“, sagt Musculus.
Älteren Menschen, die feststellen, dass sie ungewöhnlich häufig und intensiv über ihre Bewegungen nachdenken, rät sie zu einem begleiteten Bewegungssicherheitstraining. In einem solchen Training werde das individuelle Bewegungsverhalten mit Hilfe von Sporttherapeut*innen oder Sportpsycholog*innen genau erfasst. „Erstmal wäre es wichtig, die Gedanken, die in Bezug auf die Bewegung bestehen, aufzuschreiben. Anschließend sollte man die individuellen Gedanken analysieren und überprüfen, ob diese funktional und wichtig sind, weil es wirklich ein Problem bei der Ausführung gibt, oder ob sie eher mit unnötigen Sorgen und Ängsten assoziiert sind. Eine Therapeutin oder ein Psychologe können dabei helfen“, so Musculus.
Erna Meier versucht erstmal, mit Physiotherapie Vertrauen in ihren Körper zurückzugewinnen. Dass sie noch eine Zeitlang unsicher gehen wird und vielleicht sogar etwas anfälliger für Stürze ist, weiß sie. Deshalb geht sie ihre tägliche 60-minütige Trainingsrunde im Park auch weiterhin bewusst langsam und bedacht.
Text: Marilena Werth
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