Nr. 1/2022
ClearMind: Laufen, um den Kopf frei zu kriegen?!
„Ich geh' ne Runde laufen, den Kopf frei kriegen.“ Viele Menschen nutzen Joggen, um Stress abzubauen, trübe Gedanken los zu werden oder neue Kraft zu tanken. Die positiven Effekte von Sport auf das Wohlbefinden sind unumstritten. Die zugrundeliegenden neurophysiologischen Mechanismen sind jedoch nicht vollständig aufgeklärt. Wissenschaftler*innen des Instituts für Bewegungs- und Neurowissenschaft haben sich jetzt mit einem Phänomen beschäftigt, das bislang noch nicht in den Fokus der Forschung gerückt ist: das neuronale Rauschen. In einer Studie mit erfahrenen Freizeitläufer*innen haben sie die akuten Effekte durch Laufen auf das Wohlbefinden, die Kognition und die elektrokortikale Aktivität (Gehirnaktivität) untersucht - und im Hinblick auf das Phänomen „Laufen, um den Kopf frei zu bekommen“ selbstbestimmtes Laufen mit fremdbestimmtem Laufen verglichen.
„Ein fundamentales Thema der sportwissenschaftlichen Forschung ist die Untersuchung von Auswirkungen körperlicher Aktivität auf diverse biologische Systeme, wie zum Beispiel das zentrale Nervensystem“, sagt Leonard Braunsmann, gemeinsamer Projektleiter mit Dr. Vera Abeln. Die Befunde seien im Vergleich zur Funktion des Herz-Kreislauf-Systems und des Muskel-Skelett-Systems aber eher gering: „Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich dieses Forschungsfeld mit der Entwicklung und Verbesserung von Messmethoden eröffnet. Insbesondere die Elektroenzephalographie (EEG) hat sich dabei als vergleichsweise leicht anwendbare und relativ preiswerte Methode etabliert, um nicht-invasiv die elektrokortikale Aktivität zu untersuchen.“ Dabei erfassen Elektroden summierte, elektrisch und elektrochemisch hervorgerufene Schwankungen synaptischer und postsynaptischer Potentiale. „Auf diese Weise können wir untersuchen, inwiefern durch Sport verursachte Veränderungen des Wohlbefindens oder der kognitiven Leistungsfähigkeit mit Gehirnaktivität korrelieren“, erklärt Braunsmann.
Die Nervenzellen in unserem Gehirn kommunizieren miteinander in regelmäßigen Schwingungen (auch Oszillationen genannt), deren Frequenz in Hertz gemessen wird. Dabei werden verschiedene Frequenzbereiche unterschieden. „Im sportwissenschaftlichen Kontext untersuchen wir, ob und wie sich sportinduzierte Veränderungen der Gehirnaktivität in den Frequenzbändern widerspiegeln, wobei sich beispielsweise die Alpha-Aktivität, also relativ langsame Gehirnwellen, infolge des Sporttreibens erhöhen soll. Diese erhöhte Alpha-Aktivität wird mit einer Reduktion der Gehirnaktivität oder erhöhte Inhibition von irrelevanten Reizen assoziiert“, erklärt Braunsmann. Unser Gehirn sendet aber nicht nur rhythmische, oszillatorische Muster, sondern auch arhythmische, aperiodische Signale. „Wir sprechen hier von nicht-oszillatorischer Aktivität oder auch vom neuronalen Rauschen“, so der Mitarbeiter des Instituts für Bewegungs- und Neurowissenschaft. „Man kann sich das ein bisschen wie Radiowellen vorstellen – wenn der Empfang nicht gut ist, gibt es ein Rauschen.“ Dieses Rauschen sei in der Vergangenheit häufig als Störsignal betrachtet worden und wurde bei der Analyse herausgefiltert, entfernt und nicht weiter untersucht. „Jetzt wurde festgestellt, dass das Rauschen kein Störsignal ist, sondern eine funktionale Bedeutung hat: Es korreliert unter anderem mit dem Alter und mit Erkrankungen. Bedeutet: Je mehr Rauschen es gibt, desto schlechter ist die neuronale Kommunikation und dementsprechend die kognitive Leistungsfähigkeit. In unserer Studie ClearMind haben wir uns auf genau diese aperiodische Gehirnaktivität fokussiert, die in der Sportwissenschaft – nach bestem Wissen – bis dato noch keine Berücksichtigung fand“, sagt Leonard Braunsmann.
Als Testpersonen dienten 29 Freizeitsportler*innen (15 männlich, 14 weiblich; Alter: 22 ± 2,5 Jahre; BMI: 22,9 ± 2,5 kg/m²), die seit mindestens einem halben Jahr zwei Mal pro Woche aus primär gesundheitlichen Gründen läuferisch aktiv waren. In Form einer nicht-randomisierten Cross-over-Studie wurden im Frühjahr 2021 die beiden Laufinterventionen auf der 400-Meter-Tartanbahn der Deutschen Sporthochschule Köln durchgeführt. „Bei der ersten Intervention sollten die Proband*innen mit einer von ihnen selbst gewählten Wohlfühlintensität in einem kontinuierlichen Tempo über einen Zeitraum von 30 Minuten laufen“, erklärt Studienmitarbeiter Leonard Braunsmann. Während der zweiten Laufintervention, vier Wochen später, wurde bei identischer Dauer von 30 Minuten die identische Laufgeschwindigkeit der Proband*innen fortlaufend von der Versuchsleitung kontrolliert und gegebenenfalls korrigiert. Braunsmann: „Auf diese Weise wollten wir sicherstellen, dass die jeweilige Versuchsperson bei beiden Läufen mit gleicher Intensität lief, also in ihrer Wohlfühlgeschwindigkeit. Den Proband*innen war der tatsächliche Sinn und Zweck der Korrekturen nicht bekannt. Durch die fortlaufende Kontrolle und Korrektur der Laufgeschwindigkeit sollte das Autonomieerleben der Proband*innen beeinflusst werden.“ Sowohl vor als auch nach den beiden Läufen wurde das Wohlbefinden der Testpersonen mittels Fragebögen abgefragt, die kognitive Leistungsfähigkeit anhand zwei kognitiver Tests ermittelt sowie Laktatabnahmen durchgeführt, um physiologische Verarbeitungsprozesse der Laufintensität abbilden zu können. Darüber hinaus dienten EEG-Messungen zur Erfassung der Gehirnaktivität. Die Gehirnaktivität wurde vor dem Laufen, direkt danach sowie 25 Minuten später gemessen. Braunsmann erklärt: „So wollten wir analysieren, wie lange die Effekte elektrokortikaler Veränderungen anhalten.“
„Wir konnten feststellen, dass das neuronale Rauschen nach den Läufen abgenommen hat. Die mit dem reduzierten Rauschen assoziierte verbesserte neuronale Kommunikation führte zu einer erhöhten psychischen Aktivierung. Kurz: Das Gehirn schaltet ab, die Kommunikation ist besser. Das reduzierte neuronale Rauschen könnte also tatsächlich eine neurophysiologische Erklärung für den Effekt liefern, sich beim Laufen mental zu entspannen und einen freien und klaren Kopf zu bekommen“, erläutert Braunsmann ein zentrales Ergebnis der Studie. Ein weiteres Ergebnis: Die Verbesserung des Wohlbefindens und der Kognition stellte sich sowohl bei dem selbstbestimmten Lauf als auch bei dem fremdbestimmten Lauf ein „Allerdings“, so schränkt Braunsmann ein, „sind die Verbesserungen beim fremdbestimmten Laufen in vereinzelten Dimensionen weniger stark ausgeprägt. Das spricht dafür, dass das Autonomieerleben eine wichtige Rolle spielt, wenn es darum geht, den Kopf frei zu kriegen.“ Seine Empfehlung: „Freizeitsportler*innen, die primär aus gesundheitlichen Gründen laufen, sollten sich selbst nicht zu stark reglementieren, sondern individuelle Präferenzen sowie Spaß und Freude am und im Sport bewusst integrieren, wenn es ihnen darum geht, den Kopf frei zu bekommen. Inwieweit dies auch von Vorteil für andere Bereiche ist, z. B. das allgemeine Wohlbefinden oder die kognitive Leistungsfähigkeit, sollte weiterführend untersucht werden.“
Die Erkenntnisse der ClearMind-Studie liefern aber nicht nur weitere wichtige Anhaltspunkte zur Erklärung neurophysiologischer Mechanismen im Sport, sie sind auch für andere Bereiche relevant: „Im Alter oder bei Erkrankungen nimmt das neuronale Rauschen zu. Welche therapeutischen Effekte hätte es, sich auf die Abnahme des Rauschens zu fokussieren; eventuell durch Sporttreiben? Das ist ein interessanter Forschungsansatz“, sagt Leonard Braunsmann.
Text: Lena Overbeck
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