Nr. 1/2023
„Was soll am Joggen im Kölner Stadtwald fair oder unfair sein?“
Ein Philosoph ist ein Mensch, der nach Voraussetzungen unseres Denkens und Handelns fragt, um diesen Voraussetzungen ihre scheinbare Selbstverständlichkeit zu nehmen. Univ.-Prof. Dr. Volker Schürmann ist Philosoph. Als Leiter des Instituts für Pädagogik und Philosophie behandelt er vor allem grundsätzliche Fragen nach unterschiedlichen Verständnissen von Sport, Spiel und Bewegung. Im vorliegenden Paper denkt der Wissenschaftler darüber nach, ob im Sport, der nicht in Wettkampfform ausgetragen wird, sinnvoll von Fairness gesprochen werden kann. Das Paper ist im German Journal of Exercise and Sport Research erschienen und trägt den Titel: Fairness außerhalb des Wettkampfsports – gemessen am Wettkampfsport.
Was macht den Sport als Sport aus? Das ist die zentrale Frage, die dem Paper zu Grunde liegt. Und: Kann der Sport durch eine normative Dimension grundlegend charakterisiert werden oder muss er es sogar. Gemeint ist hier die allgemein anerkannte Norm unserer Gesellschaft, wie Sport sein sollte. „Es ist naheliegend, den Sport insgesamt mit Fairness in Verbindung zu bringen. Immer wieder werden schließlich die Werte des Sports beschworen“, sagt Sporthochschul-Professor Volker Schürmann. „Andererseits stellt sich die Frage, was am individuellen Freizeit-Joggen im Kölner Stadtwald fair oder unfair sein soll“, zeigt der Philosoph die zugrundeliegende Fragestellung seines Papers auf. Diese sachliche Frage hat auch eine organisationspolitische Seite: Was ist der Rechtsgrund der Mitgliedschaft im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB)? „Wir, die Vertreter*innen der Sportwissenschaft, müssen uns über die Klärung des Begriffs Sport verständigen – auch in seiner Abgrenzung. Sonst könnten wir auch keine Stellung zur Instrumentalisierung des Sports beziehen“, erläutert Schürmann. Für die weitere Betrachtung gliedert Schürmann seinen Beitrag in vier große Themenblöcke, die im Folgenden zusammengefasst werden.
Es darf vor einem Wettkampf nicht feststehen, wer gewinnt. Das ist ein minimales Verständnis von Fairness. „Es ist unfair, wenn ein 50-kg-Mensch gegen einen 100-kg-Mensch boxt oder wenn einer dopt und der andere nicht“, nennt Schürmann zwei Beispiele. Fairness steht also in Zusammenhang mit einem gerechten Leistungsvergleich. Ein fairer Wettkampf ist dann gegeben, wenn die Wettkämpfenden sagen können, dass die eigene Leistung den Ausschlag über Sieg und Niederlage gegeben hat. „Dieses minimale Verständnis von Fairness ist offenkundig an die Grundidee gebunden, dass es beim Wettkampfsport um einen gerechten Leistungsvergleich gehe“, ordnet Schürmann ein. Für den Olympischen Wettkampfsport gilt dies genauso und ist zudem in der Olympischen Charta festgehalten. Hier heißt es in Punkt 4 bei den grundlegenden Prinzipien des Olympismus: Die Ausübung von Sport ist ein Menschenrecht. Jeder Mensch muss die Möglichkeit zur Ausübung von Sport ohne Diskriminierung jeglicher Art und im olympischen Geist haben; dies erfordert gegenseitiges Verstehen im Geist von Freundschaft, Solidarität und Fairplay. Neben der regelkonformen Fairness besteht also auch eine moralische Verpflichtung, die die Athlet*innen bei sportlichen Wettkämpfen eingehen. Schürmann spricht von einer dreidimensionalen Fairness des Wettkampfsports: „Man bewertet den Wettkampfsport in sachlicher Hinsicht, also im Hinblick auf eine gute oder schlechte Durchführung, denn sonst wäre jedes Training überflüssig. Man bewertet den Wettkampfsport aber auch in rechtlicher Hinsicht, also im Hinblick auf eine regelkonforme Durchführung, und nicht zuletzt in moralischer Hinsicht, also im Hinblick auf gut/böse respektive auf eine anständige oder unanständige Durchführung. Eben das geschieht im Hinblick auf das Versprechen eines offenen Ausgangs des Wettkampfs: Man möge in sachlicher Hinsicht das Beste geben und den Sieg nicht herschenken, man möge sich an die Regeln halten, und man möge im engeren Sinne fair wettkämpfen.“
Wenn jemand aus reinem Vergnügen im Wald Mountainbike fährt, nimmt er dabei Rücksicht auf Wanderer, die denselben Weg nutzen. „Das ist eine allgemeine Anstandsregel und keine Spezifik des Mountainbikens“, sagt Schürmann und erklärt weiter: „Dass man seinen sportlichen Gegner nicht anspuckt, ist eine allgemeine Anstandsregel. Sie ergibt sich nicht daraus, dass man sich mit Antritt zum Wettkampf zu einer sportspezifischen Fairness verpflichtet hat. Die sportliche Gegnerin nicht anzuspucken, das tut man auch außerhalb des Platzes nicht, und es dennoch zu tun, ist nicht eigentlich unsportlich, sondern unanständig.“ Sportunspezifische Fairness ist demnach eine feldübergreifende, allgemeine Gerechtigkeit als grundlegendes Versprechen bürgerlicher Gesellschaften. Die sportspezifische Fairness ist daran geknüpft, die Offenheit des Ausgangs des Wettkampfes zu wahren. „Athleten und Athletinnen eines modernen sportlichen Wettkampfs sind immer zugleich Personen gleicher Rechte“, sagt Schürmann. Fairness kann also auch innerhalb des Wettkampfsports eine sportspezifische oder eine allgemeine Gerechtigkeit meinen. Hinzu kommt die Dimension der „eigenen Logik einer Sportart“, so Schürmann. „Dass man sich beim Boxen ins Gesicht boxt, ist kein Fall von Gewalt, auch nicht ein Fall von durch Regeln eingehegter und zivilisierter Gewalt. Wäre es Gewalt, wäre es verboten. Ein Schlag ins Gesicht beim Boxen mag exakt genauso aussehen wie ein Schlag ins Gesicht bei einer Straßenprügelei – es ist gleichwohl kein Fall von Gewalt; im gleichen Sinne, in dem ein Fall von Notwehr kein Mord ist. Schläge unter die Gürtellinie gehören auch beim Boxen nicht mehr zu den Mitteln des sportlichen Wettkampfs, gewisse Schläge ins Gesicht schon. So, wie gewisse Checks zum Eishockey gehören, die beim Basketball undenkbar wären. Beides aber ist nicht die Konsequenz des Gebots ‚Das tut man nicht!‘ oder von Toleranz ‚Kann man so machen!‘, sondern Ausdruck einer kulturell praktizierten eigenen Logik einer Sportart.“
In der Diskussion um Fairness außerhalb des Wettkampfsports nimmt der Schulsport eine besondere Stellung ein. Auf der einen Seite geht es auch im Schulsport um einen gerechten Leistungsvergleich und im Sinne der Olympischen Erziehung darum, sportliche Fairness einzuüben. Auf der anderen Seite steht die pädagogische Dimension des Schulsports. Es ist ein zentrales Anliegen, dass Schüler*innen ein gerechtes Miteinander einüben – und das gilt auch und gerade für den Schulsport. „Es sind zwei verschiedene Felder, in denen Sport praktiziert wird: Sport im Felde des Wettkampfsport einerseits, im Feld der Bildung andererseits“, erklärt Schürmann. Auch hier sei Fairness definitiv, aber mal im Sinne allgemeiner Gerechtigkeit, und mal im Sinne einer sportspezifischen Fairness.
Anders als im Wettkampfsport und Schulsport scheint sich die Unterscheidung von fair und unfair im Gesundheitssport gar nicht erst zu stellen. Was sollte an der Sorge um das (eigene) Wohlbefinden durch moderate körperliche Anstrengung fair oder unfair sein? Schürmann: „Es geht beim Gesundheitssport ganz sicher nicht um einen gerechten Leistungsvergleich und auch sonst spricht wenig dafür, in Bezug auf den Gesundheitssport einen sportspezifischen Fairnessbegriff für plausibel zu halten.“ Gesundheitssport richtet sich an Individuen und nicht an eine Konkurrenzsituation, insbesondere nicht an ein Gegeneinander im sportlichen Wettkampf. Laut DOSB ist der Gesundheitssport wie folgt gekennzeichnet: Ziel des Gesundheitssports ist es, durch sportliche Aktivität die körperliche Funktions- und Leistungsfähigkeit zu erhalten und zu optimieren, das Wohlbefinden zu steigern, die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung zu verbessern und Alterungsprozessen entgegen zu wirken, um dadurch die Gesundheit zu stabilisieren. Und genau hier sieht Schürmann das Problem: „Wenn der Gesundheitssport schlicht ein Teil des Gesundheitswesens ist, was schützt ihn dann vor einer Instrumentalisierung?“ Und auf die Ausgangsfrage nach dem Rechtsgrund der Mitgliedschaft im DOSB zurückgehend: Was ist mit jenen Verbänden, deren besondere Aufgabe gerade nicht der Pflege und Gestaltung des Wettkampfsports dient? Sind auch solche Verbände qua Mitgliedschaft in einer Olympischen Dachorganisation auf eine sportspezifische Fairness verpflichtet? Und falls im Einzelfall nicht: Macht das ihre Mitgliedschaft im DOSB problematisch? „Der Olympismus umfasst klarerweise weitaus mehr als Wettkampfsport“, sagt Schürmann und nennt Beispiele: „Im weitesten Sinne ist das alles, was Olympische Wettkämpfe und insbesondere Olympische Spiele möglich macht und aufrechterhält – so auch das Training. Oder: Eine Sektionssitzung des IOC (Internationales Olympisches Komitee, Anm. der Redaktion) ist nicht selbst ein sportlicher Wettkampf, aber es geht um Regularien zur Pflege des Olympischen Sports.“ Sich auf den Wettkampfsport zu beziehen, heißt also nicht, dass jedes einzelne Sporttreiben wettkampfförmig betrieben wird, sondern dass es der Sache nach auf den Wettkampf bezogen ist. Was der Sache nach auf den Wettkampf bezogen ist, ist auch der Sache nach auf die Fairness eines Wettkampfs bezogen. „Auf den Wettkampf bezogen zu sein, heißt zugleich, dass es nicht um die Gesundheit geht“, sagt Schürmann und erläutert: „Gesundheit ist ein wichtiger Begleiteffekt, aber nicht der Clou des Wettkampfsports.“ Schürmann konstatiert, dass der Gesundheitssport nicht auf eine sportspezifische Fairness befragt werden kann und dass dies der Grund für die Anfälligkeit seiner Instrumentalisierung ist.
Text: Lena Overbeck
Univ.-Prof. Dr. Volker Schürmann, geb. 1960 in Dortmund, ist Leiter des Instituts für Pädagogik und Philosophie der Deutschen Sporthochschule Köln. Er studierte Mathematik, Philosophie und Erziehungswissenschaften in Bielefeld (1. Staatsexamen: 1987). Von 1989 bis 2000 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen (Philosophie, Sportwissenschaft; Promotion: 1992, Habilitation Philosophie: 1998). 1999 erhielt er den Preis zur Förderung der Studien in der dialektischen Philosophie der Universität Groningen/NL. Von 2001 bis 2009 leitete er das Fachgebiet Sportphilosophie/Sportgeschichte der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Seit 2009 ist er an der Deutschen Sporthochschule Köln.
- Mitherausgeber von „Sport und Gesellschaft“
- Mitglied im Wiss. Beirat der „Sportwissenschaft”
- Mitherausgeber von „Current Issues of Sport Science”
- Präsident der Helmuth-Plessner-Gesellschaft
- Mitherausgeber der Buchreihe „Reflexive Sportwissenschaft“
- Mitglied im Wiss. Beirat der Buchreihe „panta rei“
- Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Philosophie
- Mitglied in der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft
- Mitglied in der Ernst Cassirer Gesellschaft
- Mitglied in der Ludwig Feuerbach Gesellschaft
- Sprecher(rat) der dvs-Sektion Sportphilosophie
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