Nr. 2/2023
Versteckte Prozesse sichtbar machen
Wann ist ein Fußballspieler gut? Welche Fähigkeiten muss er mitbringen? Welche Spielerin hat ein besonderes Talent? Und woran können Trainer*innen oder Talentscouts das erkennen? Solche Fragen sind vermutlich so alt wie der Fußball selbst. Denn letztlich geht es immer darum, das beste Team auf den Platz zu bringen, um den größtmöglichen Erfolg zu erzielen. In der Fußball-Talentsichtung in Deutschland sind mittlerweile viele Kriterien definiert. Die meisten beziehen sich auf Athletik und körperliche Leistungsfähigkeit. Kognitive Fähigkeiten werden hingegen noch nicht systematisch einbezogen. Dabei wird der Fußball doch immer mehr zur Kopfsache. Klar und wach bleiben, mit Köpfchen spielen, das Spielfeld scannen – solche Ansagen hört man oft auf dem Platz.
Doch wie wichtig sind diese „Gehirnleistungen“ wirklich im Fußball, insbesondere im leistungsorientierten Nachwuchsfußball? Das möchte Sinikka Heisler herausfinden; sie promoviert an der Sporthochschule zu Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozessen im Nachwuchsleistungsfußball und hat eine Videostudie zu kognitiven Talentkriterien durchgeführt.
Manche Merkmale sind einfach zu messen, sie sind objektiv und vergleichbar. Um ein Fußballtalent als solches zu identifizieren, werden daher häufig körperliche und motorische Parameter herangezogen wie Konstitution, Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer bzw. Koordination, Ballgefühl, Technik. Auch Persönlichkeitseigenschaften wie Motivation, Selbstbewusstsein, Zielstrebigkeit oder Einsatzfreude werden von Trainer*innen oder Talentscouts bewertet. Schwieriger zu beurteilen oder gar zu messen und zu beobachten sind die nicht so offensichtlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten von Fußballspieler*innen, also zum Beispiel all das, was im Kopf abläuft. Dazu zählen vor allem die sog. perzeptuell-kognitiven Fertigkeiten. Das sind alle Prozesse im Gehirn, die dafür sorgen, dass wir Dinge wahrnehmen und Entscheidungen treffen wie Konzentrations- und Antizipationsfähigkeit, Raum-Zeit-Gefühl oder peripheres Sehen.
Sinikka Heisler ist Promotionsstudentin der Abteilung Leistungspsychologie des Psychologischen Instituts der Sporthochschule und arbeitet als Sportpsychologin in der Fußball-Akademie des Fußball-Bundesligisten VfL Wolfsburg. In ihrem Berufsalltag befasst sie sich mit den alltäglichen Fragen von Spieler*innen und Trainer*innen zur psychischen Gesundheit und Leistungsoptimierung. An dem Forschungsprojekt mit dem Titel „Perzeptuell-kognitive Talentkriterien im Nachwuchsleistungsfußball (POTENTIAL)“ arbeitet sie zusammen mit ihren Kolleginnen Babett Lobinger und Lisa Musculus-Schönenborn. „Es ist ein sehr praxisorientiertes Forschungsthema“, betont die Projektleiterin, „aus der Praxis für die Praxis“. Heisler möchte ein tieferes Verständnis darüber erlangen, wie Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Entscheidungsverhalten im fußballspezifischen Kontext aussehen. Ihr Ziel ist es, die für den Fußball relevanten kognitiven Prozesse zu identifizieren und zu erklären, wie sich diese beobachten und beschreiben lassen. „Wir wissen schon viel über allgemeine Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse, aber im Sport beziehungsweise konkret im Fußball fehlt ein sehr detaillierter Blick noch. Mit meiner Promotion versuche ich, genau dort rein zu zoomen, um besser zu verstehen, welche kognitiven Prozesse im auf dem Platz wichtig sind“, erklärt Heisler.
Kognitive Prozesse und Entscheidungsverhalten im Fußball, was heißt das genau? Bereits gut erforscht und für den Fußball als relevant nachgewiesen sind dabei unter anderem diese drei Aspekte: Arbeitsgedächtnis, Inhibition und kognitive Flexibilität. Das Arbeitsgedächtnis umfasst die Fähigkeit unseres Gehirns, sich kurzfristig Informationen zu merken und diese weiterzuverarbeiten. Dazu zählen räumliches Vorstellungsvermögen, logisches Denken und Kreativität. Das Arbeitsgedächtnis spielt für die Entscheidungsfähigkeit eine bedeutende Rolle. Heisler nennt ein Beispiel: „Ich mache auf dem Fußballplatz einen Schulterblick und registriere, dass mein Mitspieler nach vorne sprintet. Ich speichere das ab und bin mit dieser Information in der Lage, meinen nächsten Pass zu planen. Ich spiele den Ball also in den leeren Raum, weil ich weiß, dass mein Mitspieler dort auftaucht.“
Inhibition umschreibt die Fähigkeit, bestimmte Impulse oder bereits gestartete Handlungen zu unterdrücken. Beispiel: „Als Abwehrspieler möchte ich den Ball zu meinem Torwart zurückspielen. Dann sehe ich, wie der gegnerische Stürmer auf den Ball lauert und den Passweg zustellen möchte. Daher breche ich diese Aktion ab und spiele einen anderen freien Mitspieler an.“ Der dritte kognitive Prozess, den sich Heisler anschaut, ist die kognitive Flexibilität. Diese sagt aus, dass wir in der Lage sind, Regeln oder Verhalten an die jeweilige Situation anzupassen. Beispiel: „Mein direkter Gegenspieler hat einen starken rechten Fuß und bewegt sich dementsprechend. Dann wird für ihn auf dieselbe Position ein Linksfuß eingewechselt und ich muss mein Abwehrverhalten anpassen.“
Um kognitive Prozesse zu messen, gibt es zwar bereits videobasierte Verfahren. In der Praxis ist es aber laut Heisler eher die Beobachtung, auf deren Grundlage Entscheidungen zu Spielern und deren Fähigkeiten getroffen werden. Um herauszufinden, inwiefern diese kognitiven Prozesse auf dem Fußballplatz beobachtbar sind, hat Sinikka Heisler eine qualitative Studie mit Nachwuchstrainern durchgeführt. Im Vorfeld wählte die Forscherin Videosequenzen mit Spielszenen von jungen Fußballspielern im Alter zwischen 14 und 16 Jahren aus. „Wir haben speziell diese Altersgruppe herausgegriffen, weil die kognitive Entwicklung in diesem Alter noch geschieht, einige Prozesse bereits ausgebildet sind, andere hingegen noch nicht vollständig. Auch aus fußballerischer Sicht ist das ein wichtiges Alter, weil die Spieler häufig hier auch überregional professionell gescoutet und langfristig an einen Verein gebunden werden“, erklärt Heisler das Alterskonzept. In einem ersten Schritt wurden die Videosequenzen von wissenschaftlichen Expert*innen codiert und beschrieben: „Wir haben ausformuliert, welche kognitiven Prozesse in den Szenen erkennbar sind, also ob etwa ein Spieler seinen Kopf nach rechts dreht und einen Mitspieler wahrnimmt – Wahrnehmungsprozess – oder ob ein Spieler aufgrund eines Ballverlusts des Gegners schnell vom Abwehr- in den Angriffsmodus umschaltet – kognitive Flexibilität.“
Am Ende standen 14 Videos offensiver Spielszenen. Sie zeigen zum Beispiel, wie ein Spieler kurz vor dem Torabschluss agiert oder wie er den entscheidenden Pass an den Mitspieler spielt. Alle relevanten kognitiven Prozesse, die die Wissenschaftler*innen zuvor aus einer Literaturrecherche herausgezogen hatten, fanden sich in den Videoszenen wieder. Zehn Nachwuchstrainer hatten dann die Aufgabe, die Szenen und das Verhalten der Spieler zu beschreiben und die zu beobachtenden kognitiven Prozesse zu erläutern. Sie sollten außerdem begründen, woran sie ihre Interpretation knüpfen. Woran kann ein Trainer erkennen, dass ein Spieler aufmerksam ist? Oder, dass ein Spieler alle seine Mitspieler im Blick hat? Woran kann ein Trainer erkennen, dass ein Spieler eine Entscheidung getroffen hat? Diesen Fragen wollte die Forscherin mit den Analysen auf den Grund gehen. Die Trainer formulierten dann beispielhaft solche Beschreibungen: „Ok, dieser Spieler wirkt auf mich sehr wach. Er beobachtet den Ballgewinn von seinen Kumpels, ist folglich aber auch sofort anspielbar.“ Oder: „Er hat den Mitspieler nicht beachtet und er hat die Gesamtsituation nicht gesehen. Er denkt zwar offensiv, dass ist ok. Er hat sein Programm noch offen, aber grundsätzlich hat er keine Vorstellung, wo der Raum bespielt werden muss, sondern eigentlich spielt er im Rücken.“
Die Auswertung der Videoanalysen hat Sinikka Heisler mittlerweile abgeschlossen. 34 verschiedene Prozesse haben die Trainer beschrieben. Der so entstandenen Bewertungsbogen soll nun reduziert werden. Das heißt laut Heisler: „Wir nehmen eine Abstufung vor und definieren mit Hilfe der Trainer, welche kognitiven Prozesse im Fußball wichtiger und welche weniger wichtig sind. Schließlich möchten wir ein möglichst ökonomisches Verfahren entwickeln, das auch wirklich von den Trainern genutzt wird.“ Letztlich soll so ein systematischer Beurteilungsbogen für den Talentvergleich oder die Talentsuche entstehen, der praktikabel und aussagekräftig ist und auch unter Zeitdruck funktioniert. Am Ende – so Heislers Vision – könnte eine Art ‚Score‘ stehen, über den sich die Spieler bezogen auf ihre kognitiven Prozesse und ihr Entscheidungsverhalten vergleichen lassen. „Hierbei müssen wir die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis berücksichtigen“, ist sich die junge Wissenschaftlerin bewusst. „Die Wissenschaft hat den Anspruch, ihre Erkenntnisse allumfassend und ganzheitlich abzubilden. Für die Praktiker müssen die Ergebnisse aber so alltagsnah und praktikabel wie möglich sein, damit sie auch genutzt werden.“
Mit dem Feedback zu ihren Untersuchungen ist Heisler sehr zufrieden. Vor allem von den Trainern, die sie an den Videoanalysen beteiligte, erhielt sie positive Rückmeldungen: „Die haben sich total gefreut, dass wir etwas entwickeln, das in der Praxis hilft und das auch so ein bisschen die Stimme der Praxis aufgreift. Ich habe wieder gemerkt, wie groß das Wissen ist, dass die Trainer durch ihre langjährige Erfahrung mitbringen. Sie attestieren den Spielern zwar nicht direkt Inhibitionsfähigkeit – das ist ja unsere wissenschaftliche Bezeichnung – aber sie erkennen alle diese kognitiven Prozesse.“ Im nächsten Schritt will Heisler unter anderem prüfen, ob ihr Messverfahren reliabel ist; schließlich war die bisherige Stichprobe sehr klein. Sie möchte einen Beitrag leisten, besser zu verstehen, was auf dem Fußballfeld im Kopf passiert und die verborgenen Leistungen des Gehirns sichtbar zu machen.
Text: Julia Neuburg
Weitere Infos
Im Zuge ihres Promotionsprojekts hat Sinikka Heisler kürzlich einen Artikel im Fachmagazin Psychology of Sport and Exercise veröffentlicht. Der Titel: „A developmental perspective on decision making in young soccer players: The role of executive functions” (Eine Entwicklungsperspektive auf das Entscheidungsverhalten von Nachwuchsfußballern: Die Rolle der Exekutivfunktionen). Der Artikel schildert die Ergebnisse einer vorangegangenen Untersuchung, bei der zwei Altersgruppen (jüngere vs. ältere Spieler) eine videobasierte Optionsgenerierungs- und Entscheidungsfindungsaufgabe durchführten. Zusätzlich wurden die exekutiven Funktionen (Zusammenfassung der im Haupttext erwähnten Prozesse Arbeitsgedächtnis, Inhibition und kognitive Flexibilität) mit standardisierten computergestützten Tests untersucht. Die Ergebnisse der Studie zeigen einen Zusammenhang zwischen exekutiven Funktionen und sportartspezifischer Entscheidungsfindung, wobei das Arbeitsgedächtnis am stärksten betroffen war. Darüber hinaus generierten ältere Spieler bessere Optionen und zeigten eine bessere Inhibition und kognitive Flexibilität als jüngere Spieler. Die Autorinnen vermuten, dass es einen entscheidenden Wendepunkt in der kognitiven Entwicklung um das Alter von elf Jahren gibt.
Sinikka Heisler studierte Psychologie an der Universität Hamburg (Bachelor) und Sportpsychologie an der Deutschen Sporthochschule Köln (Master). Sie war Stipendiatin der Abteilung Leistungspsychologie des Psychologischen Instituts. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie drei Jahre lang als Sportpsychologin im Nachwuchsleistungszentrum des HSV. Seit dem 1.7.2022 ist sie als Sportpsychologin beim VfL Wolfsburg tätig und dort zuständig für die sportpsychologische Betreuung der A-Junioren-Bundesligamannschaft sowie der U13 und U15. Neben ihrer Tätigkeit beim VfL Wolfsburg arbeitet sie an ihrer Doktorarbeit zum Thema „Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse im Nachwuchs-Leistungsfußball“.