Nr. 3/2021
Wie man Elfmeter besser halten kann
Wissenschaftler*innen der Deutschen Sporthochschule Köln haben die Elfmeterschießen aller Welt- und Europameisterschaften zwischen 1984 und 2016 analysiert. Die insgesamt 395 ausgewerteten Schüsse zeigen: Ob der Ball ins Tor geht oder nicht, hängt von dem Zusammenspiel der Strategien von Schütze und Torwart ab. Das Fazit aus den Forschungsergebnissen: Um beim Elfmeterschießen erfolgreich zu sein, ist es wichtig, die eigene Strategie immer mal wieder zu ändern oder die des Gegners genau zu kennen.
2006 machte ein kleiner Papierzettel im WM-Viertelfinale zwischen Argentinien und Deutschland Schlagzeilen: Torwarttrainer Andreas Köpke hatte dem damaligen Nationaltorhüter Jens Lehmann kurz vor dem Elfmeterschießen einen Zettel zugesteckt, auf dem – wie später bekannt wurde – die bevorzugten Ecken der Schützen notiert waren. Deutschland gewann das Elfmeterschießen und zog in das WM-Halbfinale ein.
Bis heute wird der Spickzettel gefeiert. Er wurde sogar im Haus der Geschichte in Bonn ausgestellt – obwohl Lehmann später in Interviews sagte, die Informationen auf dem Zettel seien nicht wirklich hilfreich gewesen. Die Vorstellung, durch genaue Analyse könne man Elfmeter besser halten, hält sich weiterhin. Forscher*innen der Sporthochschule haben dieses Phänomen nun wissenschaftlich untersucht und die Ergebnisse unter dem Titel „The Interplay of Goalkeepers and Penalty Takers Affects Their Chances of Success“ im Journal „Frontiers in Psychology“ veröffentlicht. Für ihre Studie haben sie das zeitliche Entscheidungsverhalten von Schütze und Torwart kombiniert, um die Erfolgswahrscheinlichkeit beim Elfmeterschießen zu berechnen.
Zeitliche und räumliche Entscheidungsfindung im Fokus
„Schaut man sich die Studien über Elfmeter oder vergleichbare Situationen an, dann geht es meistens um räumliche Entscheidungen: Wo schieße ich hin? Wo springe ichn? Entscheidet der Torwart ausschließlich nach diesem Kriterium, kann er immer in die richtige Ecke springen. Er wird dann aber auch immer zu spät sein. Wir haben in unserer Untersuchung deshalb nicht nur das räumliche Entscheidungsverhalten der Torhüter und Schützen betrachtet, sondern auch das zeitliche. Außerdem stellen wir in unserer Auswertung eine Abhängigkeit zwischen der räumlichen und der zeitlichen Entscheidungsfindung her“, erklärt Erstautor Dr. Benjamin Noël vom Institut für Trainingswissenschaft und Sportinformatik, Abteilung Kognitions- und Sportspielforschung.
Beim Elfmeterschießen ist die Ausgangslage des Torwarts undankbar. Wird der Ball platziert und hart geschossen, ist er unhaltbar. Umso mehr werden Strategien wichtig, die die Chance erhöhen, einen Ball zu halten. Gerade in Drucksituationen, in denen Schütze und Torwart eher Fehler machen, ist eine ausgeklügelte Strategie vielversprechen. Doch welche Strategie verspricht die meisten gehaltenen Bälle? „Ziel unserer Studie war es, den Schützen oder Torhütern – bezogen auf die zeitliche Entscheidung – einen Anhaltspunkt mit auf den Weg geben zu können, wie sie sich am besten verhalten. Und das auch unter Berücksichtigung des zeitlichen Verhaltens des Gegenübers“, sagt Noël.
Analysiert wurden 395 Schüsse aus 41 Elfmeterschießen
Für ihre Untersuchung haben die Forscher*innen die 41 Elfmeterschießen, die zwischen 1984 und 2016 bei einer Fußball-Europameisterschaft oder -Weltmeisterschaft der Männer stattgefunden haben, anhand von Videosequenzen analysiert. Knapp drei Viertel der betrachteten Schüsse (73,2 Prozent) gingen ins Tor. Für die Analyse werteten sie alle 395 Schüsse nach einem einheitlichen Schema aus. Sie unterteilten die Strategie der Schützen in torwartabhängig und torwartunabhängig, die der Torwarte in früh und spät – bezogen auf ihre Reaktion. Um die Strategien möglichst objektiv einordnen zu können, analysierten erfahrene Trainer das Videomaterial.
„In einer vorherigen Studie haben wir Schützen gebeten, einen Elfmeter entweder mit einer torwartabhängigen oder mit einer torwartunabhängigen Strategie zu schießen. Die Analyse davon war Basis unserer jetzigen Untersuchung, denn damals hat sich herausgestellt: Drei Merkmale können recht zuverlässig zeigen, welche Strategie ein Schütze verfolgt. Das sind: die Aufmerksamkeit des Schützen, also wie lange schaut er auf den Torhüter, die Flüssigkeit des Anlaufs und die Schusstechnik. Schützen, die auf den Torhüter achten, schießen eher mit der Innenseite“, erklärt Noël.
Die Strategie der Torwarte wurde in eine langsame bzw. abwartende Strategie und eine schnelle Strategie unterteilt. Langsam bedeutet in dem Fall, dass die Abwehrreaktion 160 Millisekunden oder später vor Berührung des Balls startet. Als schnell wurde eine Reaktion kategorisiert, die 200 Millisekunden vor der Berührung des Balls startete.
Knapp drei Viertel der Schützen schießen torwartunabhängig
Die Auswertungen zeigen: 72,66 Prozent der Schützen verfolgen eine torwartunabhängige Strategie und 66,08 Prozent der Torwarte reagieren eher spät. Die Wahrscheinlichkeit, einen Treffer zu erzielen, war dann am größten, wenn der Torwart sich schnell bewegte und der Schütze eine torwartabhängige Strategie verfolgte. Das Ergebnis zeigt, wie wichtig das Zusammenspiel der Strategien für den Erfolg ist.
„Es wurde bisher vermutet, dass die torwartabhängige Strategie dann schlechter funktioniert, wenn der Keeper sich spät bewegt. Und auch andersherum: Dass es ein Vorteil sein kann, wenn sich der Torwart spät bewegt. Das gab es als theoretische Überlegung, aber nicht mit empirischen Zahlen untermauert. Mich hat überrascht, dass wir diese theoretischen Überlegungen so deutlich durch unsere Untersuchung bestätigen konnten. Wir konnten sehr schön in einer Tabelle (siehe Grafik rechts, Anm. d. Redaktion) zeigen, dass die Trefferwahrscheinlichkeit höher wird, wenn die Strategien von Torwart und Schütze zusammenpassen“, beschreibt Noël.
Die Message: Strategien analysieren und aufeinander abstimmen
Die Ergebnisse der Studie zeigen aber auch: Die EINE Strategie für den größtmöglichen Erfolg beim Elfmeterschießen gibt es nicht. Vielmehr ist es wichtig, die unterschiedlichen Herangehensweisen von Schütze und Torwart abzugleichen und möglichst aufeinander abzustimmen. Um zu vermeiden, dass sich beide Spieler aufeinander einstellen, sollten Schützen ihre Strategie ändern können – auch, wenn die torwartunabhängige Strategie statistisch gesehen erfolgreicher war. Für Torwarte könnte es manchmal sinnvoll sein, etwas früher zu starten, denn oft antizipieren sie zwar die richtige Seite, auf die der Ball geschossen wird, können einen platzierten Ball dann aber nicht mehr rechtzeitig erreichen.
Was würde also Studienleiter Dr. Benjamin Noël heute auf einen Spickzettel für den Nationaltorhüter schreiben: „Tatsächlich haben Überlegungen wie unsere auch damals bei Lehmann schon eine Rolle gespielt; sie waren nur noch nicht so systematisch erfasst. Auf dem Zettel stand nämlich zusätzlich zu den Ecken auch bei einem Spieler ‚lange warten‘. Wenn ich weiß, dass der Schütze den Torhüter ausguckt, würde ich raten, möglichst spät zu springen. Wenn ich im Idealfall noch zusätzlich weiß, wo der Schütze lieber hin schießt, dann würde ich das auch noch erwähnen. Also: Möglichst lange warten und dann vielleicht eher in die eine Richtung springen. Aber solche Empfehlungen haben immer Grenzen. Man muss verstehen: Es geht bei solchen Berechnungen um Wahrscheinlichkeiten und um einen einzigen Schuss. Da spielen auch noch weitere Faktoren eine Rolle.“
Text: Marilena Werth