Nr. 3/2021
„Sportpolitik als Wachstumsfeld“
Seit frühester Jugend ist Jürgen Mittag (51) fasziniert von politischen Prozessen, wie diese funktionieren oder auch nicht funktionieren. Eines seiner liebsten Untersuchungsobjekte ist dabei die Europäische Union. Seit zehn Jahren besetzt er an der Deutschen Sporthochschule Köln die damals erste originär sportpolitikbezogene Professur in Deutschland und leitet das Institut für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung. In seinem Büro türmen sich Bücher, Aktenordner und Unterlagen – im Regal, auf der Fensterbank, auf dem Boden. „Jeder dieser Stapel steht für zumindest ein aktuelles Projekt“, sagt er mit unverkennbarer wissenschaftlicher Neugierde. Eine Zimmerpflanze hat er kunstvoll vor den Stapeln positioniert; sie vermag nur bedingt, das zu bewältigende Arbeitspensum zu kaschieren.
Europäische Politik ist langweilig, kompliziert und intransparent? Nicht, wenn man sich mit Professor Jürgen Mittag unterhält. Seine Leidenschaft für politische Zusammenhänge wird in jedem Satz deutlich: „Ich persönlich bin ein sehr großer Freund davon, historische und politische Prozesse in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Nur wer die Entwicklungslinien kennt, kann gegenwärtige Strukturen nachvollziehen.“
Schon als Jugendlicher interessiert sich Mittag für Politik. Folgerichtig ist dann sein Studium der Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Germanistik an den Universitäten Köln, Bonn und Oxford. Während des Studiums arbeitet er am Seminar für Politikwissenschaft der Uni Köln, wird dort dann wissenschaftlicher Mitarbeiter, 2000 folgt die Promotion. In dieser Zeit entstehen nicht nur erste Studien zur Sportpolitik, sondern auch Kontakte zur Sporthochschule. „Im Rahmen des Zertifikatskurses ‚Europäische Sportstudien‘an der Sporthochschule habe ich – ohne zu wissen, was später einmal daraus wird – Seminare gegeben“, erinnert er sich. Nach weiteren Stationen im In- und Ausland und einer mehrjährigen Tätigkeit am Institut für soziale Bewegungen in Bochum wird ein Nachfolger für den Lehrstuhl an der Sporthochschule gesucht. Der neue Titel der Professur „Sportpolitik“ passt perfekt zu Jürgen Mittag, er erhält den Ruf: „Für mich eine ziemlich perfekte Quintessenz meiner bisherigen Studien und Stationen“. Seitdem hat er die europäische Sportpolitik zum Hauptgegenstand von Forschung und Lehre erhoben. Sein Institut trägt den Titel eines Jean Monnet-Lehrstuhls und zielt damit auf ein besseres Verständnis der Europäischen Union ab, indem verstärkt europäische Themen in die Lehre implementiert werden.
Forschung: Zukunft der europäischen Sportpolitik und Good Governance
Der gebürtige Rheinländer hat kein geringeres Ansinnen als die systematische Erforschung der Sportpolitik, und zwar auf regionaler, europäischer und internationaler Ebene. Mit der Zukunft der europäischen Sportpolitik befasst sich gegenwärtig auch das Projekt „EU Sports Policy: Assessment and Possible Ways forward“. Es betrachtet die Entwicklung seit 2009 als der europäische Sport mit dem Vertrag von Lissabon erstmals eine rechtliche Grundlage und eigene Kompetenzen erhielt. „Unsere Aufgabe war es, für das Europäische Parlament die Entwicklung der vergangenen zehn Jahren zu dokumentieren, Strukturen aufzuzeigen und Handlungsempfehlungen zu geben, was sich aus der gegenwärtigen Sportpolitik für die Zukunft ableiten lässt“, erklärt der Projektleiter. Das Ergebnis? Wachstum und Differenzierung. „Immer mehr Akteure, Regeln, Programme, Geld, Prozesse machen die gegenwärtige europäische Sportpolitik komplex und kompliziert“, hält Mittag fest.
Kritik an dieser Komplexität kann der Wissenschaftler nachvollziehen, erklärt aber gleichzeitig, wo sie herkommt: „Aus der sektoral begrenzten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl mit sechs Ländern hat sich ein Geflecht von 27 Staaten entwickelt, das sehr eng miteinander verzahnt ist und alle denkbaren Politikfelder behandelt. In manchen Politikfeldern hat die EU das Sagen, zum Beispiel in der Geldpolitik, in anderen Bereichen ist sie aber nur unterstützend oder koordinierend tätig, etwa in der Sportpolitik. Das wird manchmal als unübersichtlich oder intransparent verstanden.“ Bei allen Defiziten sieht Mittag die EU als eine zentrale Errungenschaft, vor allem für Frieden und Wohlstand. Gleichwohl bestehe Reformbedarf.
Reformbedarf herrscht mitunter auch in großen Sportorganisationen. Daher befassen sich weitere seiner Projekte mit der „guten Führung“, der sogenannten Good Governance, in nationalen und internationalen Sportorganisationen wie etwa den Anti-Doping-Agenturen. Mittag erläutert: „Good Governance im Sport zielt darauf, die Legitimität und Effektivität von Sportorganisationen nach innen und außen zu steigern. Bei unseren Projekten erarbeiten wir Good Governance-Codes, die spezifische Empfehlungen und Richtlinien für nationale Sportorganisationen eröffnen sollen. Außerdem ist in diesem Jahr ein Projekt gestartet, das Athletenvertretungen in den Blick nimmt und die Arbeitsbeziehungen im Sport untersuchen möchte.“
Von Bolzplätzen bis Olympia, von regionaler bis internationaler Sportpolitik
Neben den Projekten auf EU-Ebene interessieren sich Mittag und sein Team aber auch für sportpolitische Fragen in einzelnen Regionen, zum Beispiel in NRW und im Ruhrgebiet, und für Sportsysteme anderer Nationen, zum Beispiel China. „China ist nicht nur als größtes Land dieser Welt besonders interessant, sondern auch im Hinblick auf seine sportpolitischen und zivilgesellschaftlichen Strukturen. Mit unserer Forschung versuchen wir, etwas Licht in das bisweilen verschlungene Verhältnis von staatlicher chinesischer Sportpolitik und zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation zu bringen“, sagt der Institutsleiter. Wenig Beachtung in der Forschung habe bisher die regionale Sportpolitik gefunden. Daher legt er auch hier einen Schwerpunkt: „In unserem föderalen Sportsystem spielen Regionen und Bundesländer eine zentrale Rolle, denn Programme für den Alters-, Jugend- oder Gesundheitssport finden vor allem auf regionaler Ebene statt. Gleichwohl hat dieser Blick stets einen europäischen Charakter, weil auch andere Staaten Europas föderale Gebilde besitzen und sich hier Vergleiche ziehen lassen.“
Neben der Sportpolitik bildet die Freizeitforschung eine zweite Säule des Instituts. „Arbeit und Freizeit sind zwei wesentliche Bestandteile unseres Alltagslebens und eng miteinander verwoben. Wenn sich Arbeit verändert, dann hat dies auch Auswirkungen auf die Freizeit“, sagt Mittag. Die Forschungsaktivitäten befassen sich mit sozialen Strukturen, gesellschaftlichem Miteinander und einer sich ständig verändernden Bewegungskultur. Hier wird Mittags besonderes Interesse für das Ruhrgebiet augenscheinlich: „Selbst im europäischen Vergleich ist das Ruhrgebiet mit seinen fünf Millionen Einwohnern eines der größten Ballungszentren, ein besonderer Mikrokosmos, und ein zentrales Beispiel dafür, wie sich Urbanisierung auf Sport und Freizeit auswirkt.“ Ein besonders interessantes Untersuchungsfeld sind dabei Bolzplätze. Die Bolzplatzdichte im Ruhrgebiet ist hoch. Doch: Woher kommen sie? Wie sind sie entstanden? Von wem und warum wurden sie gebaut? „Das untersuchen wir aktuell in einem Kooperationsprojekt mit dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass dem Bolzplatz weniger als Fußballfeld, sondern mehr als Spielfeld Bedeutung zukommt, als ein Ort, an dem sich Kinder und Jugendliche unbeaufsichtigt, unkontrolliert, spontan, selbst organisiert und selbstregulierend bewegen“, skizziert Mittag Zwischenergebnisse.
Ob Brexit, IOC oder Fußball-EM: Mittag ist gefragter Gutachter, Berater, Experte
Neben der Projektarbeit ist Mittag häufig als Gutachter aktiv, tritt als Berater politischer Gremien in Erscheinung. So unlängst bei einer Enquete-Kommission des NRW-Landtags zum Brexit. Enquete-Kommission werden eingesetzt, um umfassende, komplexe Entwicklungsprozesse zu beleuchten und deren Auswirkungen zu erfassen. Der Brexit ist ein solches Phänomen: Eine Entscheidung, die von sehr grundsätzlicher Bedeutung ist, über deren konkrete Konsequenzen für NRW man aber noch wenig weiß. In seinem Gutachten gibt Jürgen Mittag eine umfangreichere Einschätzung dazu ab, wie sich der Brexit auf den Sport in NRW auswirken wird: „Der Brexit trifft den Sport massiv und auf verschiedensten Ebenen, ob das Forschungskooperationen in der Sportwissenschaft sind oder die nunmehr eingeschränkte Freizügigkeit von grenzüberschreitend tätigen Athlet*innen. Neue Herausforderungen stellen sich auch bei Wettbewerben etwa im Reit- und Schießsport, bei Fanreisen, Städtepartnerschaften oder langjährigen Kooperationen zwischen Sportvereinen – alle diese Bereiche werden unter den einschränkenden Rahmenbedingungen des Brexits leiden.“
Jürgen Mittag gilt ebenfalls als Kenner internationaler Sportorganisationen. Erst kürzlich hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) die Bewerbung der Rhein-Ruhr-Region für die Olympischen Spiele 2032 im Keim erstickt, bevor es zu einer intensiven Auseinandersetzung kommen konnte. Mittag erklärt einen zentralen Hintergrund: „Das IOC hat mit seiner ‚New Norm‘ das Bewerbungsprozedere für die Austragung Olympischer Spiele erneut angepasst und eine stärkere Begleitung des Bewerbungsprozesses in die Wege geleitet. Das Verfahren soll dadurch vereinfacht, aber auch gestrafft werden. Bei der 2032-Bewerbung ist nun der Fall eingetreten, dass sich das IOC schon recht früh im Sinne einer begleitenden Steuerung des Bewerbungsprozederes auf den australischen Kandidaten als Priority Host festgelegt hat. Das bringt die anderen Kandidaten unweigerlich ins Hintertreffen, was NRW aktuell erfährt.“
Als Europäer und Fußballfan hat Jürgen Mittag natürlich auch eine Meinung zur Fußball-EM, die von Mitte Juni bis Mitte Juli in zehn europäischen Städten und einer asiatischen Stadt stattfinden soll: „Die ursprüngliche Idee, die EM-Spiele im Jubiläumsjahr ausnahmsweise transnational in ganz Europa auszutragen, fand ich durchaus gelungen. Ob das nun unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen wirklich sinnvoll und realisierbar ist, würde ich mit Fragezeichen versehen wollen.“ Gefragt nach einer Person, die er gerne einmal treffen würde, bleibt Jürgen Mittag dem Fußball treu. „Ein Gespräch mit Karl-Heinz Rummenigge über die Europäisierung des Fußballs fände ich reizvoll. Rummenigge war in den 2000er Jahren federführend an der Auseinandersetzung der europäischen Topclubs der G14 mit der UEFA beteiligt und hat dazu mehrfach auch Gespräche mit den EU-Institutionen geführt. Mich würde interessieren, wie diese Prozesse vonstattengegangen sind. Das kann man nirgendwo lesen, sondern wirklich nur durch Hintergrundgespräche erfahren“, begründet Mittag seine Wahl. Die jüngsten Debatten um Super League und Champions League-Reform knüpfen hier nahtlos an. Dingen auf den Grund gehen, gemeinsame und kontroverse Interessen aufarbeiten und daraus Schlüsse für die Zukunft ziehen, darin liegt Jürgen Mittags Leidenschaft.
Text: Julia Neuburg
Ergänzende Informationen
Beruflicher und universitärer Werdegang
- seit 2014: Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte an der Beijing Sport University und der Shanghai University of Sport
- seit 2012: (ehrenamtliches) Vorstandsmitglied der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets
- seit 2011: Jean Monnet-Professur
- seit 2011: Universitätsprofessur für Sport und Politik an der Deutschen Sporthochschule Köln und Leiter des Instituts für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung
- 2010: Anerkennung habilitationsäquivalenter Leistungen
- 2003-2010: wissenschaftlicher Geschäftsführer des Instituts für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum
- 2000: Promotion zum Dr. phil. an der Universität zu Köln
- 1997-2003: wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln; zeitweilig parallel auch Mitarbeiter am Institut für Europäische Politik in Berlin (IEP)
- seit 1997: Lehrtätigkeiten an der Deutschen Sporthochschule Köln, den Universitäten Bochum, Köln und Göttingen, an der Sciences Po (Paris) und der Bosphorus University (Istanbul)
- seit 1997: Lehrtätigkeiten für u.a. die Bundesakademie für öffentliche Verwaltung (Brühl), das Gustav-Stresemann-Institut (Bonn), das Centre Internationale de Formation Européenne (Nizza), für politische Stiftungen und Einrichtungen der politischen Weiterbildung, für Sportverbände, -vereine und weitere Sportorganisationen
- 1995-1997: studentischer Mitarbeiter am Zentrum für Historische Sozialforschung und am Seminar für Politikwissenschaft der Universität Köln
- 1992-1997: Studium der Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Germanistik an den Universitäten Köln, Oxford und Bonn
- 1990-1992: Zivildienst
- 1990: Abitur in Leverkusen-Opladen
- Geboren 14. März 1970 (Alter 51 Jahre), Hilden
Kontakt
Jürgen Mittag
Telefon | +49 221 4982-2690 |
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