Nr. 3/2022
„Ich bin eine, die gerne im stillen Kämmerlein sitzt und brütet“
Nach mehr als 35 Jahren an der Sporthochschule endet Ende Juli die offizielle Dienstzeit von Univ.-Prof.‘in Ilse Hartmann-Tews. Über viele Jahre hinweg ist sie die einzige Professorin für Frauenforschung in Deutschland. Ihre Forschungsprojekte erregen regelmäßig öffentliche Aufmerksamkeit, ob beim Thema sexualisierte Gewalt oder Homophobie im Sport. Dabei ist es ein ziemlicher Zufall, dass Ilse Hartmann-Tews in der Sportsoziologie gelandet ist. Zeit, um auf ihre wissenschaftliche Arbeit zurückzublicken. Anlass, um das zu würdigen, was sie für die Sportsoziologie geleistet hat. Und ein Grund, um mal wieder Pink Floyds „Another Brick in the Wall“, besser bekannt mit der Liedzeile „We Don’t Need No Education“, zu hören.
In der Schule ist Ilse Hartmann-Tews vor allem in Mathe und Physik gut, ein Diplomstudium in Mathematik daher naheliegend. Doch relativ schnell merkt sie, dass ihr das doch zu abstrakt und zu stupide ist: „Immer nur Beweise für mathematische Probleme zu finden, die eigentlich schon gelöst waren, das war nichts für mich“, erklärt sie. Es folgt eine Orientierungsphase, in der der damals 19-Jährigen etwas in die Hände fällt, das ihren Weg prägen wird: das Buch ‚Homo Sociologicus‘ von Ralf Dahrendorf. „Von dem Zeitpunkt an war ich Feuer und Flamme. Ich wusste: Das will ich machen.“ Der ‚Homo Sociologicus‘ ist ein soziologisches Akteurmodell, das versucht, Verhalten und soziales Handeln zu erklären. Der Mensch ist in diesem Modell ein durch die Gesellschaft bedingtes Wesen, das sich Normen, Werten und Erwartungen beugen muss. „Dahrendorf hat damit auch die Frage des autonomen Willens des Individuums erneut angestoßen. Wie prägen gesellschaftliche Strukturen das Handeln? Wie kann aber auch massenhaftes Handeln Strukturen verändern, stabilisieren oder etwas ganz Neues hervorbringen? Diese Fragestellungen faszinieren mich bis heute“, erläutert Hartmann-Tews.
Sie entscheidet sich für ein Lehramtsstudium in Sozialwissenschaften und Englisch an der Universität zu Köln. Als studentische Hilfskraft entdeckt sie ihre Faszination für Forschung und wissenschaftliches Arbeiten: Am Institut für empirische Sozialforschung der Uni Köln arbeitet sie in einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit, bei dem es um die Begutachtung in der Forschungsförderung geht. „Ein unglaublich spannendes Projekt, aus dem heraus ich promoviert habe und aus dem sich mein Faible für Forschung und auch für die Wissenschaft als möglicher Berufsweg entwickelt hat. Und ein Thema, das mich fortlaufend in meiner wissenschaftlichen Karriere begleitet hat“, skizziert Hartmann-Tews ihre ersten Schritte im Wissenschaftssystem.
1985 landet sie an der Sporthochschule – wieder durch einen Zufall. „Mein Vorgänger Professor Volker Rittner hat mir auf einer Tagung der Soziologie einen Lehrauftrag an der Spoho angeboten. Ich hatte von Sportsoziologie keine Ahnung und machte zu dem Zeitpunkt auch nicht besonders viel Sport“, erinnert sie sich und lacht. Die Thematik ‚Frauen und Sport‘ war dabei ihr Einstieg an der Sporthochschule. „Professor Rittner dachte, dass ich als Soziologin und Frau das Thema gut übernehmen könnte. Und dieses Angebot war für mich eine riesige Chance.“ 1995 folgt die Habilitation zum Strukturwandel der Sportsysteme im internationalen Vergleich. Zu dem Zeitpunkt ist sie die einzige deutsche Sportsoziologin im internationalen Feld und knüpft schnell gute Kontakte. „Mein Interesse, aus internationalen Vergleichen neue Erkenntnisse zu gewinnen, zieht sich wie ein roter Faden durch meine Forschung.“ Bis heute: Aktuell erscheint ein Band über Sport, Identität und Inklusion von LGBTQ-Personen im Sport in Europa. Ihre Offenheit für internationale Themen und andere Kulturen begründet sie auch mit ihrem Auslandsaufenthalt in England während ihres Studiums. „Ich hatte dort viel mit anderen internationalen Studierenden und Dozierenden zu tun; das fand ich großartig. Ende der 1970er Jahre war die Jugendkultur in England wirklich wild und krass, da war Köln total hinterher. Das hat mich vor allem offen gemacht für andere Kulturen.“ Nur die Boxen ihres damaligen Autos haben die wilde Zeit nicht überlebt: „Mit Pink Floyds ‚We Don’t Need No Education‘ habe ich die Boxen in meinen alten Polo überfordert“, erinnert sie sich und lächelt verschmitzt.
In all den Jahren hat Ilse Hartmann-Tews (ab 2014 als Leiterin des Instituts für Soziologie und Genderforschung der Sporthochschule) viele Forschungsthemen in den Blick genommen: die Rolle der Frau im Sport, Altern im Sport, die Darstellung von Frauen und Sportlerinnen in den Medien, sexualisierte Gewalt im Sport, die Situation von LSBTIQ* im Sport. „Ich habe mich meist von dem leiten lassen, was ich beobachtet habe, wenn ich etwa in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen soziale Ungleichheit gesehen habe“, beschreibt sie ihre Forschungs-Vita. „Als ich Anfang 50 war, hatte das Thema Altern und Sport einen persönlichen Bezug. Zudem hat mich ein empirischer Befund neugierig gemacht: Ab zirka 60 Jahren sind es überproportional mehr Frauen, die sportlich aktiv sind als Männer. Das klassische geschlechtsbezogene Partizipationsprofil im Jugendalter wird quasi auf den Kopf gestellt“, erläutert sie. Was steckt hinter diesem Befund? Welche sozialen Mechanismen wirken hier? Diese Fragen fand sie spannend. Ein Aspekt sei dabei, dass „bei Jungen und Männern die Wettkampforientierung stärker ausgeprägt ist und, sie gerne in einen Vergleich mit anderen gehen. Im höheren Alter können sie dann aber die nachlassende Leistungsfähigkeit nicht ganz so gut mit dieser sportlichen Identität in Einklang bringen und hören eher auf mit dem Sport“.
Ein weiteres Forschungsfeld, das die Professorin beackert, ist die Darstellung von Frauen und Sportlerinnen in den Medien. Hierzu führt sie Langzeitstudien durch, die die Tagespresse, aber auch die Berichterstattung im Rahmen von Sportgroßereignissen analysieren. Dass Sportlerinnen über Jahrzehnte und weiterhin in der Tagespresse unterrepräsentiert sind und gleichzeitig ihre Leistungen geringer gewürdigt werden, findet die Soziologin überraschend. „Das bestätigt aber auch, dass sich Kultur nur ganz, ganz langsam wandelt. Da gehören viele Akteur*innen dazu, die das ändern können, der organisierte Sport ebenso wie die Medien und Sportjournalist*innen“, sagt Hartmann-Tews.
Besondere Aufmerksamkeit in Politik und Öffentlichkeit hat ihr Forschungsthema „sexualisierte Gewalt im Sport“ erlangt. Mit dem Projekt »Safe Sport« lieferte ihr Team erstmals Zahlen zur sexualisierten Gewalt im deutschen Spitzensport. „Aufgrund von Missbrauchsfällen im Bildungssystem und in den Kirchen berief die Bundesregierung damals einen Runden Tisch ein und startete eine Forschungsinitiative. Da waren wir mit dabei, wir haben genau im richtigen Moment die Forschungsergebnisse geliefert und es geschafft, diese gut nach außen zu kommunizieren – das war ganz wichtig, weil wir damit eine Grundlage geschaffen haben, auf die sich alle berufen können“. Auf die Frage, ob sie auf das, was sie als Wissenschaftlerin bewirkt hat, stolz ist, antwortet sie: „Zufrieden passt als Beschreibung für diesen Rückblick und für mich besser. Mir ist es, zusammen mit meinem Team, gelungen, die Situation von Mädchen und Frauen im Sport ins Licht der Forschung und auch der Sportpraxis zu rücken. Anhand empirischer Studien und theoretischer Ansätze konnten wir deutlich machen, wie der Sport an der Reproduktion einer traditionellen Geschlechterordnung und Diskriminierung von Mädchen und Frauen beteiligt ist.“
Die Forschung habe ihr immer besonderen Spaß gemacht, vor allem, „wenn das Forschungsteam ideal zusammengesetzt ist und dadurch der Forschungsspirit Sogwirkung entfaltet“. Sie beschreibt sich selbst als eine, „die sehr gerne im stillen Kämmerlein sitzt und brütet“ – über das, was sie liest oder was sie in Ergebnissen erkennt. Und wenn es dann Klick mache, sei die Freude riesig groß. Als besondere persönliche Bereicherung und eine sehr dankbare Aufgabe empfindet Ilse Hartmann-Tews zudem die Arbeit mit ihrem wissenschaftlichen Nachwuchs: „Junge Leute zu kritischem Denken anzuregen, sie in ihrer Entwicklung zu begleiten, sie zu stärken und zu sehen, wie sich Talente entfalten: einfach großartig!“.
Auch die Gremienarbeit begeistert die 65-Jährige: Ideen entwickeln, Interessen bündeln, andere überzeugen und zusammen mit Kolleg*innen Visionen umsetzen und Herausforderungen meistern. Seit 2013 ist sie stellvertretende Vorsitzende des Hochschulrats der Deutschen Sporthochschule, zuvor war sie Vorsitzende des Senats. „Der Hochschulrat profitiert aus meiner Sicht vor allem durch die Erfahrungen der externen Mitglieder. Sie zeigen blinde Flecken im Organisationshandeln der Universität auf, die wir hier intern nicht oder nicht so schnell erkennen.“
Nun, nach mehr als 35 Jahren an der Spoho, endet ihre offizielle Dienstzeit. Doch langweilig wird es Ilse Hartmann-Tews ganz sicher nicht: Kürzlich hat sie noch drei Projektförderungen eingeworben, diese Forschungsprojekte wird sie über ihre Dienstzeit hinaus fortführen. Von einem „Ruhe“stand kann also keine Rede sein. Ihr Mann habe da auch schon irritiert nachgefragt, erzählt sie und fängt an zu lachen: „Ja, ein klein wenig ambivalent ist das schon. Drei Anträge, drei Bewilligungen, 100 Prozent Erfolgsquote. Das hat mich auch etwas überrascht!“. Es handelt sich um zwei Verbundprojekte im Rahmen von ERASMUS+ (EU-Förderprogramm) zum Thema „Sport für Alle – Inklusion von LGBTIQ“ sowie ein Projekt zu Rassismus im Spitzensport. Die Projektleitungen teilt sie sich mit Kolleginnen. „Aus der Forschung zum Altern weiß ich, dass ich jetzt zu der Gruppe der ‚jungen Alten‘ gehöre und dass Altern in Bewegung – also kognitiv wie motorisch – die beste Voraussetzung für gute Lebensqualität ist“, sagt sie augenzwinkernd.
Anlässlich ihres Abschiedes findet am 15. Juli noch ein Fachsymposium statt. „Die Idee und die ganze Organisation des Symposiums sind ein Geschenk meines Teams, über das ich mich wirklich sehr freue. Im Detail darf ich mich überraschen lassen!“. Und dann geht Ilse Hartmann-Tews auf Tour, mit einem neuen „Bulli“. Der alte, Baujahr 1997, wurde kürzlich in gute Nachbarschaftshände abgegeben und durch einen neuen T6 ersetzt. „Es ist also immer noch Reisen mit leichtem Gepäck – aber mit etwas mehr Komfort durch die fortgeschrittene Technik“, sagt sie. Ein paar Ideen für Reiserouten gibt es schon, etwa nochmal bis an die Nordspitze von Schottland wie zu Studienzeiten oder entlang der Atlantikküste runter bis Südportugal. Dann wird bestimmt auch das eine oder andere Mal der Liedtext von Pink Floyd „We Don’t Need No Education“ aus den Boxen schallen. Die Neuen werden es hoffentlich aushalten.
Text: Julia Neuburg
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