Nr. 3/2022
Blockiert am Berg
Gelb, rot, schwarz oder die Alpine Route? In Tirol sind die Wanderwege in vier Schwierigkeitsgrade eingeteilt: Gelb steht für einen leichten Wanderweg, rot für einen mittelschweren Bergweg, schwarz kennzeichnet einen schweren Bergweg und die Alpine Route ist mit sehr schwer angegeben. Reicht diese Kennzeichnung für die Wandernden aus, um sicher ans Ziel zu kommen? Schätzen die Wandernden ihre Wanderfähigkeiten richtig ein und wer ist da überhaupt in den Bergen unterwegs? Mit diesen Fragestellungen hat sich Dr. Julia Severiens (36) vom Institut für Outdoor Sport und Umweltforschung auseinandergesetzt und eine Analyse der Wandernden im Stubaital in Tirol durchgeführt. Ihr Ziel war es dabei herauszuarbeiten, welchen Anforderungen Wanderleitsysteme entsprechenden sollten. Im Interview verrät die Wissenschaftlerin, dass 50 Prozent der Wanderungen anders verlaufen als geplant, warum auch der Hund mit daran schuld ist und dass es immer gut ist, eine Route B im Kopf zu haben.
Frau Severiens, Sie beschäftigen sich mit Wanderleitsystemen in alpinen Destinationen. Warum ist das wichtig?
Grundsätzlich hat das Thema an Bedeutung gewonnen, weil die Bergunfallstatistiken zeigen, dass immer mehr Wanderinnen und Wanderer in die Alpen kommen und dass die Anzahl gemeldeter Unfälle und Notrufe gestiegen ist. Das ist eine relative Entwicklung - je mehr Menschen in die Berge kommen, desto mehr Unfälle passieren auch. Aber es wurde in den vergangenen Jahren vor allem ein signifikanter Anstieg der sogenannten Blockierungen festgestellt. Das sind Notrufe, bei denen Menschen unverletzt sind, aber feststecken. Sie haben sich in eine Situation manövriert, aus der sie selbstständig nicht mehr herauskommen. Weder der Abstieg noch der Aufstieg ist für diese Personen machbar – zum Beispiel, weil sie körperlich zu erschöpft sind oder der Wanderweg technisch zu anspruchsvoll ist. Das ist ein Hinweis darauf, dass viele Menschen mit wenig Erfahrung in den Bergen unterwegs sind und ein ausgeklügeltes Wanderleitsystem notwendig ist, um solchen Situationen vorzubeugen.
Warum haben Sie sich für Ihre Untersuchung das Stubaital in Tirol ausgesucht?
Das Stubaital ist ein langjähriger Partner unseres Instituts und ich habe mich in einem vorangegangenen Projekt bereits ausgiebig mit dem Stubaital auseinandergesetzt. Damals haben wir alle Wanderwege georeferenziert und klassifiziert sowie jeden einzelnen Wegweiser dokumentiert. Ich konnte also auf eine große Datenbank zurückgreifen. Außerdem bietet sich das Stubaital an, weil es eine der beliebtesten Wanderregionen in Tirol ist und eine Vielzahl an unterschiedlichen Wandertypen anzieht – aufgrund des großen Angebotes an unterschiedlich schweren Touren.
Wie kann man sich Ihre Untersuchung vorstellen? Haben Sie vor Ort die Wandernden abgepasst?
Genau so war es. Ich war gemeinsam mit einer Kollegin im Sommer für drei Wochen im Stubaital und habe in enger Absprache mit dem Tourismusverband zwei Erhebungsstandorte definiert. Dort haben wir uns morgens positioniert und die Wandernden zu Beginn ihrer Wanderung befragt: Wer seid Ihr, woher kommt Ihr, welche Tour habt Ihr geplant, wie schätzt Ihr Eure Wanderfähigkeiten ein, wie lange wollt Ihr wandern, wie viele Höhenmeter und so weiter. Zusätzlich haben sie einen kleinen GPS-Logger von uns bekommen und auf ihrer Wanderung getragen. So konnte ich einen guten Vorher-Nachher-Vergleich anstellen: Wie waren die Bedürfnisse und wie waren die Wandernden dann tatsächlich unterwegs? Die GPS-Daten konnte ich mit meinen geografischen Daten aus dem Vorgängerprojekt abgleichen. Insgesamt haben wir 366 Befragungen durchgeführt - sowohl von Einzelpersonen als auch von Gruppen - und von 1.076 Wandernden die soziodemographischen Merkmale erfasst sowie 363 auswertbare GPS-Tracks erhoben.
Was sind die zentralen Ergebnisse?
Bezogen auf die Tourenplanung konnten wir feststellen, dass zwölf Prozent einfach so drauflosgelaufen sind und sich gar keine Gedanken über den Weg gemacht haben. Die anderen 88 Prozent haben sich im Vorfeld informiert, aber mehr als ein Drittel konnte keine Angaben zu Höhenmetern machen. Außerdem konnten wir einen signifikanten Unterschied ausmachen: zwischen der Schwierigkeitsstufe, die die Tour aufweisen sollte und der Tour, die dann tatsächlich gewandert wurde. Wir haben die Wanderfähigkeiten abgefragt und auf Grundlage der Selbsteinschätzung theoretisch ermittelt, welchen Schwierigkeitsgrad die Person begehen könnte – dafür habe ich auf ein Messinstrument zurückgegriffen, die sogenannte BergwanderCard, die im Rahmen einer Vorstudie der Sicherheitsforschung des Deutschen Alpenvereins entwickelt wurde. Und auch hier konnten wir feststellen, dass die Wandernden auf signifikant schwereren Wegen unterwegs waren, als sie theoretisch in der Lage gewesen wären zu wandern. Die anfängliche Vermutung, dass die Wandernden überwiegend wenig informiert sind und sich überschätzen beziehungsweise die Wege unterschätzen, konnten wir definitiv bestätigen. Über die Zielgruppencharakterisierung haben wir zudem wertvolle Informationen zu den Bedürfnissen und zum Informationsverhalten der Wandernden erhalten. Hieraus lassen sich Rückschlüsse ziehen, wie Wanderleitsysteme optimalerweise gestaltet sein sollten, um nutzungsgruppengerecht Maßnahmen setzen zu können.
Welche wären das aus Ihrer Sicht?
Ich hatte erwartet, dass sich die meisten Wandernden über Tourenplanungsportale informieren. Tatsächlich haben sich aber – von denjenigen, die digitale Medien nutzen – 46 Prozent auf der Webseite des Stubaitals direkt informiert. Das ist ein guter Ansatzpunkt, denn dann muss hier bereits stärker Aufklärung betrieben werden. Die Angabe von Schwierigkeitsgraden allein reicht nicht. Man könnte zusätzlich die Wanderfähigkeiten abfragen, um passende Routenvorschläge zu erhalten. Informationen dazu, wie sich Menschen in der Natur richtig Verhalten und was bei Wetterumschwüngen zu tun ist, sind ebenfalls notwendig. Ebenso wie der Hinweis, dass man immer einen Plan B, also eine Alternativroute, parat haben sollte. Je mehr wir über das Verhalten der Wandernden wissen, desto besser können Präventionsmaßnahmen greifen.
50 Prozent der Befragten gaben an, dass ihre Wanderung anders verlaufen ist als geplant. Woran lag das?
Als häufiger Grund wurde körperliche Erschöpfung genannt – wetterbedingt, bei zum Beispiel starker Hitze. Oder aufgrund von Umwegen, die den Weg länger gemacht haben. Dann ausrüstungsbezogene Probleme, unpassendes Schuhwerk, falsche Kleidung, keine Kopfbedeckung etc. Häufig wurden auch Kinder und Hunde als Grund genannt. Da wurde dann während der Tour festgestellt, dass die Strecke mit Hund oder Kind nicht bewältigt werden kann. 27 Prozent gaben zudem an, dass sie Probleme hatten, den Weg zu finden. Für 44 Prozent war der Schwierigkeitsgrad der Wanderung nicht angemessen. Bei diesen Touren gab es zwar keine Notrufe, aber man kann das Risikopotenzial erkennen.
Was haben Sie als Nächstes vor, was sind weitere Forschungsvorhaben?
Es gibt alpenweit keine einheitliche Schwierigkeitsklassifizierung der Wanderwege. Nicht nur die Einteilung ist unterschiedlich, auch die Beschreibung, was den Wanderweg genau ausmacht, ist nicht definiert. Es wäre spannend, hier einen Versuch zu starten, das zu vereinheitlichen und in dem Zuge auch ein konkretes Anforderungsprofil zu definieren. Also: Welche Fähigkeiten braucht der Wanderer oder die Wanderin, um einen bestimmten Weg bewältigen zu können? Hier könnte auch das Tool der BergwanderCard noch mal evaluiert und weiterentwickelt werden. Außerdem würde mich eine stärke Zielgruppenanalyse der Wandernden interessieren. Man könnte zum Beispiel eine datenbasierte Segmentierung vornehmen, eine Clusteranalyse, um daraus spezifische und individuelle Maßnahmen für die Besucher*innenlenkung abzuleiten. Da habe ich noch sehr viele Ideen (lacht).
Text: Lena Overbeck