Nr. 4/2017
Der Muskel im Kopf
PD Dr. Dr. Sandra Rojas hat herausgefunden, dass das Gehirn ähnlich auf Bewegung reagiert wie die Muskulatur. Nun könnten ihre Studien wertvolle Erkenntnisse für DiabetikerInnen liefern und Menschen helfen, die an Depressionen leiden.
Plötzlich liegt eine enorme Kraft in der Stimme von Sandra Rojas, „ich bin mir sicher, die Wirkung von Sport ist gewaltig im Gehirn“, sagt die Forscherin vom Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft. Dann macht sie eine kurze Pause und wiederholt: „gewaltig!“ Die gebürtige Kolumbianerin ist fasziniert von diesem Organ, das wahrscheinlich mehr Geheimnisse birgt als alle anderen Bereiche des menschlichen Körpers. Geheimnisse, von denen sie gerne einige lüften würde. Rojas hat sich auf ein Feld begeben, das von der Wissenschaft bisher kaum beachtet wurde: die Veränderungen, die körperliche Aktivitäten im Gehirn verursachen. Was die Funktionsweise betrifft, vor allem jedoch hinsichtlich der Struktur dieses erstaunlichen Organs.
Und dabei steht immer wieder ein für Laien unerwarteter Befund im Mittelpunkt: „Das Gehirn ist eine sehr plastische Struktur, und die Veränderungen die in diesem Organ durch Sport entstehen, ähneln auf verblüffende Art und Weise den Veränderungen, die Bewegung im Muskel hervorruft“, sagt Rojas. Innerhalb kürzester Zeit kann körperliche Aktivität bestimmte Areale im Hirn wachsen, aber auch schrumpfen lassen, wie einen unterschiedlich stark beanspruchten Bizeps. Sogar die Stoffwechselprozesse sind vergleichbar. So verkleinert sich durch Bewegung zum Beispiel die bei depressiven Menschen oftmals vergrößerte Amygdala, der Mandelkern. Deshalb führt regelmäßiges Sportreiben dazu, „dass viele betroffene Menschen nicht mehr so stark unter Ängsten leiden“, lautet eine von Rojas‘ Erkenntnissen. Auf der anderen Seite wächst der für viele Gehirnfunktionen bedeutsame Hippocampus durch intensive Bewegung, und das verbessert die geistige Leistungsfähigkeit.
Die Hintergründe dieser Veränderungen kann Rojas sogar physiologisch erklären. Durch körperliche Aktivität werden viele nützliche Substanzen freigesetzt, bestimmte Proteinarten bei aerobem Ausdauertraining, andere bei Kraftübungen. Gemeinsam ist diesen Stoffen, dass sie als kostbare Nahrung zur Stärkung und Entwicklung des Gehirns dienen. Das macht die Proteine zu wirksamen Mitteln gegen Hirnschäden und erklärt den Zusammenhang zwischen Bewegungsmangel und Erkrankungen des Denkorgans. Denn in der heutigen Zeit arbeiten moderne Gesellschaften durch den Einsatz technischer Hilfsmittel zwar effektiver, was vielen Menschen mehr Freizeit verschafft, die aber in Rojas‘ Augen viel zu wenig für körperliche Aktivitäten genutzt wird. „Das menschliche Gehirn hat sich durch Bewegung entwickelt“, sagt die Wissenschaftlerin, „und es braucht immer noch die gleiche Bewegung wie früher, um den eigenen Stoffwechsel und damit seine Struktur und Funktionalität aufrechtzuhalten.“ Weil immer mehr Menschen zu inaktiv sind, ist die Häufung neurodegenerativer Erkrankungen wie Depression, Angststörungen, Burn-out oder Demenz nur folgerichtig. Und natürlich sind auch Diabetiker, die sich oftmals einen ungesunden Lebensstil angewöhnt haben, einem erhöhten Risiko ausgesetzt, an Alzheimer oder anderen Formen der Demenz zu erkranken; Rojas' These: Sport senkt dieses Risiko deutlich.
Derzeit ist sie dabei, diese Zusammenhänge im Rahmen einer internationalen Studie mit jeweils 100 Probanden in Deutschland und Kolumbien nachzuweisen. Die Idee ist, zu untersuchen, ob sich die Gehirne von Menschen mit Diabetes, die körperlich nur wenig aktiv sind, ungünstiger verändern als die Gehirne von Patientinnen und Patienten, die Sport treiben. Sollte sich bestätigen, dass Aktivität funktionelle oder strukturelle Hirnschäden minimieren oder sogar aufheben kann, wäre das ein Durchbruch. „Ich bin mir fast sicher, dass sich dieser Befund zeigen wird“, sagt Rojas, aber schon jetzt staunen einige der führenden Hirnforscher über die 52-Jährige. Als sie ihre Ergebnisse vor kurzem in Buenos Aires vor den angesehensten Fachleuten der Welt vortrug, stellte sich heraus, „die haben noch nie davon gehört“, erzählt Rojas. Die Kolleginnen und Kollegen waren begeistert. Demnächst soll sie ihre Ergebnisse auf weiteren Kongressen präsentieren.
Das klingt nach einer internationalen Forscherkarriere der habilitierten Neurowissenschaftlerin, aber einen Wechsel an eine andere Universität plant sie erstmal nicht. Rojas, die seit Jahren zu den engsten Mitarbeitern von Rektor Univ.-Prof. Dr. Heiko Strüder gehört, schätzt die Deutsche Sporthochschule und findet „diese Verbindung zwischen Neurowissenschaft und physiologischen Fragestellungen hier einzigartig“. Sie ist eine Forscherin aus Leidenschaft und hat mit dem Gehirn ein Organ gefunden, dessen Geheimnisse sie nicht mehr loslasse.
Text: Daniel Theweleit
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Sandra Rojas Vega
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