Nr. 5/2016
Kampfsport in der Schule
Seit 1999 ist Kampfsport fester Bestandteil des Schulsports an nordrhein-westfälischen Schulen. Denn vor mittlerweile fast 20 Jahren wurde der Inhaltsbereich „Ringen und Kämpfen – Zweikampfsport“ als einer von neun Pflichtbereichen in den Rahmenvorgaben für den Schulsport festgeschrieben. Soweit zumindest die Theorie. Leo Istas, Promotionsstudent und Graduiertenstipendiat an der Deutschen Sporthochschule Köln, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Anspruch und Wirklichkeit von Kampfsport in der Schule nachzugehen. Die folgenreiche Fußnote „Boxen gehört nicht zu den Schulsportarten“ wurde für den 30-Jährigen dabei zum Ausgangspunkt seiner Forschung.
In schwarzer Trainingshose und schwarzem Kapuzenpulli gekleidet steht Leo Istas in der Sporthalle umringt von Studierenden. An den Händen trägt er schwarze Boxhandschuhe, mit einem Studenten macht er die nächste Übung vor. Ruhig und präzise sind seine Anweisungen, dennoch merkt man ihm seine Leidenschaft schnell an. Hier unterrichtet er gerade in der Profilergänzung „Kampfkunst, Kampfsport und Selbstverteidigung“ – sein persönliches Steckenpferd ist dabei der Boxsport: Als Jugendlicher kam er 2002 erstmals mit dem Boxen in Berührung und entdeckte den Sport für sich. Nach seiner Zeit als aktiver Athlet engagiert er sich seit 2008 als Boxtrainer, u.a. im Vereins- und Schulsport, und konzentrierte sich ab 2011 auf den Aufbau des studentischen Boxsports an der Sporthochschule. Auf dieses Engagement gehen nicht zuletzt die durchschlagenden Erfolge bei den Hochschulmeisterschaften in den vergangenen Jahren zurück. Auch die hochschulinternen Kampfsport-Events erfreuen sich stetig wachsender Beliebtheit. Zum einen ist ihm also der Kampfsport – und insbesondere der Boxsport – eine Herzensangelegenheit. Zum anderen hat er sein Studium in den Fächern Sport, Geschichte und Englisch für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen abgeschlossen und fühlt sich mit der Entwicklung von Schule und Schulsport stark verbunden. Aus der Schnittmenge dieser zwei Interessen entstand schließlich auch seine Frage, warum Boxen ursprünglich für den Sportunterricht an Schulen ausgenommen war.
„Seit 1999 ist der Komplex Kampfsport und Kampfkunst in den nordrhein-westfälischen Lehrplänen festgeschrieben, und zwar unter dem Titel ‚Ringen und Kämpfen – Zweikampfsport‘. Gemeint sind hiermit die klassischen normierten Formen des Zweikampfsports, aber genauso spielerische Vorformen. Allerdings wird hier das Boxen als möglicher Zweikampfsport in einer einfachen Fußnote und ohne nähere Erläuterungen kurzerhand ausgeschlossen“, erklärt Istas den Ansatz und Anstoß für sein Forschungsinteresse. „Diese Fußnote ‚Boxen gehört nicht zu den Schulsportarten‘ steht ganz klar im Widerspruch zur ursprünglichen Grundidee einer pädagogischen Öffnung des Schulsports“.
Ausgehend von den Widersprüchlichkeiten in den Lehrplänen, entwickelte Istas so die Idee für sein Promotionsvorhaben, welches sich in drei Teile gliedert. Die theoretische Basisarbeit umfasst eine inhaltliche Analyse aller curricularen Vorgaben zum Kampfsport. „Dazu erhebe ich die Situation in den Lehrplänen und anderen ministeriellen Erlässen und fasse die Entwicklungen zusammen – eine literaturgestützte Rekonstruktion des curricularen Entwicklungsprozesses sozusagen“, erklärt Istas den ersten Schritt seiner Arbeit. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Frage: Was passiert in der Lehrerausbildung beim Thema Kampfsport? Hierzu hat Istas bereits mehrere Experteninterviews mit Dozierenden an den NRW-Hochschulen durchgeführt und bereits erhebliche Unterschiede in Umfang und Strukturierung der Lehramtsausbildung feststellen können. „Von der klassischen Judo-Ausbildung über inklusives Fechten bis hin zum unkonventionellen Mannschaftskampfsport ‚Rugby‘ gestaltet sich die universitäre Ausbildungspraxis als teilweise sehr heterogen“, beschreibt er.
Der dritte, für das kommende Jahr geplante Teil der Arbeit soll schließlich die schulische Praxis, also – im Neusprech der kompetenzorientierten Lehrpläne – den konkreten „Output“ im Kontext Schule, ins Auge fassen. Dazu plant Istas in einem kombinierten Verfahren Online-Befragungen und qualitative Interviews mit Sportlehrkräften durchzuführen. Erste Annahmen aus Voruntersuchungen lassen sich aber bereits jetzt äußern: „Es deutet sich eine relativ große Diskrepanz zwischen dem Soll- und dem Ist-Zustand an. Sprich: Die Umsetzung in der Praxis steht weit hinter den theoretischen Vorgaben zurück. Ob sich die bereits konstatierte Uneinheitlichkeit in den ministeriellen Vorgaben bzw. der universitären Ausbildung in einer entsprechend großen Unsicherheit bei den Lehrkräften niedergeschlagen hat, bleibt abzuwarten“, sagt Istas. Den Abgleich zwischen Anspruch und Wirklichkeit möchte er erst im abschließenden Teil seiner Promotion erörtern, wenn alle Fakten und Befunde ausgebreitet vor ihm liegen.
Mit seinem wissenschaftlichen Engagement im Bereich Kampfsport ist Istas in guter Gesellschaft: Seit 2011 tagt die Kommission „Kampfkunst und Kampfsport“ der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) jährlich. In diesem Jahr hat die Jahrestagung an der Sporthochschule unter dem Titel „Martial Arts and Society“ den Anschluss an den internationalen Diskurs vollzogen. Als Organisator und Fürsprecher für den Kampfsport trat neben Istas auch dessen Doktorvater Univ.-Prof. Dr. Swen Körner für eine verstärkte Forschung in diesem Bereich ein.
Text: Julia Neuburg