Nr. 5/2017
Dem Muskelschwund auf der Spur
Wer heutzutage geboren wird, der hat gute Chancen, deutlich älter als 80 Jahre alt zu werden. Erfreulich, wenn man auch im Alter gesund und fit ist. Allerdings steigt mit höherem Alter auch das Risiko der so genannten Sarkopenie, dem altersbedingten Muskelschwund. Auf dieses Forschungsfeld hat sich Dr. Tobias Morat vom Institut für Bewegungs- und Sportgerontologie spezialisiert.
Altersbedingter Muskelschwund kann bereits mit einem Alter von 50 Jahren beginnen; ab dem 70. Lebensjahr beschleunigt sich der Prozess. Mit dem Verlust von Muskelmasse gehen eine Abnahme der Kraft und funktionelle Einschränkungen einher. Dadurch können ältere Menschen vermehrt von Stürzen und damit verbundenen Verletzungen betroffen sein. Denn: Ein trainierter 50-Jähriger kann beim Stolpern noch schnell genug reagieren und sich abfangen, während das ein sarkopenischer Älterer eventuell nicht mehr schafft.
„Für die Sarkopenie sind laut der ‚European Working Group on Sarcopenia in Older People’ (EWGSOP) drei Parameter mit entscheidend: verringerte Muskelmasse, reduzierte Muskelkraft und eine verminderte körperliche Leistungsfähigkeit. Allerdings gibt es noch keine Einigkeit darüber, welcher Parameter wichtiger oder relevanter ist als der andere und welche Mechanismen für diese Veränderungen verantwortlich sind“, erklärt Morat. In der renommierten neurowissenschaftlichen Fachzeitschrift „Muscle & Nerve“ ist nun sein neuester Artikel erschienen1. Die hier veröffentlichten Forschungsergebnisse entstammen Studien, die er an der University of Western Ontario in London (Kanada) zusammen mit einem internationalen Forscherteam an Probanden im Durchschnittsalter von 78 Jahren durchgeführt hat.
Gründe für Sarkopenie können muskelabbauende Prozesse im Körper, mangelnde Bewegung oder krankheitsbedingte Immobilisation (z.B. Bettruhe) oder auch eine Unterversorgung mit Protein sein. Gleichzeitig zeigen Studien, dass sich mit zunehmendem Alter die Innervation von Muskelfasern verändert. Die Anzahl der so genannten motorischen Einheiten2, die dafür sorgen, dass die Muskeln kontrahieren, reduziert sich, d.h. einzelne Motoneurone sterben ab und einige Muskelfasern können dadurch nicht mehr innerviert werden. Eine Re-Innervation durch noch aktive Motoneurone kann die Signalweiterleitung verändern und letztlich zu ungenaueren Bewegungen führen. Um beim Beispiel des Stolperns zu bleiben: Der Fuß kann nicht mehr schnell genug nach oben gezogen werden, um den Sturz abzufangen.
Zur Prüfung auf Sarkopenie legt die EWGSOP bei Personen ab 65 Jahren Grenzwerte zu Ganggeschwindigkeit, Handgriffkraft und Muskelmasse fest. Daraus lassen sich drei Ausprägungsstufen bei Betroffenen ausmachen: prä-sarkopenisch, sarkopenisch und schwer sarkopenisch. „Ob Sarkopenie vorliegt, lässt sich mittlerweile mithilfe des Screening-Algorithmus der EWGSOP bestimmen. Allerdings ist bisher noch nicht klar, ob die einfachen Testverfahren wie die Messung der Handgriffkraft überhaupt geeignet sind, relevante Parameter der Sarkopenie aufzudecken. Darüber hinaus sind die zugrunde liegenden Prozesse der Sarkopenie, also ob sie primär muskulär bedingt ist oder ob mehr die neuronale Komponente mitentscheidend ist bisher noch nicht ausreichend erforscht“, erklärt Morat. Ziel seiner Untersuchungen war daher, „die neuromuskulären Eigenschaften von älteren Personen in den drei unterschiedlichen Sarkopenie-Stadien zu erfassen“.
Daher nahm der Wissenschaftler die motorischen Einheiten (ME) genauer unter die Lupe: Deren Anzahl nimmt im Alter ab, und es treten Defizite bei der neuromuskulären Übertragung und der Stabilität der motorischen Einheiten auf. „Als Folge dessen sind die Zielbewegungen nicht mehr so effektiv wie vorher“, erklärt Morat. „Mit der Decomposition-based quantitative electromyography – kurz DQEMG-Methode – einer kombinierten Messung aus Oberflächen-EMG und intramuskulärem Nadel-EMG – können Aussagen über die Anzahl motorischer Einheiten, zu deren Stabilität, sprich Genauigkeit und Zuverlässigkeit – genannt Jiggle und Jitter – , sowie zum Grad an Denervierung getroffen werden“, erläutert Morat sein Vorgehen. Das Ergebnis: „Die reine Anzahl an motorischen Einheiten scheint nicht alleine ausschlaggebend für den Grad der Sarkopenie zu sein“, schlussfolgert Morat. Deutliche Unterschiede zwischen den drei Sarkopenie-Kategorien gibt es allerdings bei der Variabilität der Übertragung, d.h. je stärker der Grad der Sarkopenie, desto ungenauer und unzuverlässiger werden die Muskelfasern angesteuert. „Einzelne Ergebnisse weisen darauf hin, dass es eine Verbindung zwischen dem Stadium der Sarkopenie und der Stabilität der neuromuskulären Übertragung geben könnte“, fasst Morat zusammen.
„Neuromuskuläre Umbauprozesse mit zunehmenden Alter sind zwar nicht vermeidbar, es ist aber möglich, ihnen entgegen zu wirken und sie zu verlangsamen“, hält Morat fest. „Auf Basis dieser Ergebnisse wäre zu überlegen, ob weiterhin der EWGSOP-Algorithmus eingesetzt werden sollte oder nicht andere funktionelle Tests enger in Verbindung mit den neuromuskulären Prozessen von Älteren mit Sarkopenie zusammenhängen.“ Hierzu sind weitere Studien mit größeren Stichproben erforderlich, um Ältere mit Sarkopenie auf Basis der zugrunde liegenden Mechanismen einteilen und anschließend geeignete zielführende Interventionen entwickeln zu können, damit Ältere auch im Alltag davon profitieren und kräftig und mobil bleiben.
Text: Julia Neuburg
1 Motor Unit Number Estimation and Neuromuscular Fidelity in 3 Stages of Sarcopenia: Gilmore, K. J., Morat, T., Doherty, T. J. & Rice, C. L. 04.2017 in : Muscle & nerve.
2 Eine motorische Einheit umfasst ein Motoneuron und alle von ihm innervierten Muskelfasern.