Nr. 5/2017
„Der Sport driftet in Bereiche hinein, in denen nicht mehr der Körper Leistungen bestimmt, sondern Technologie.“
Univ.-Prof. Dr. Gert-Peter Brüggemann blickt auf ein ereignisreiches Forscherleben zurück. Von der Entwicklung moderner Laufschuhe über ethische Fragen zum wachsenden Einfluss von Technologie im Sport bis zur Untersuchung des „Wetten, dass…“-Unfalls von Samuel Koch stand für den Biomechaniker immer die Frage nach den tieferen Ursachen von Ereignissen im Vordergrund. In diesem Jahr geht er in den Ruhestand.
Herr Brüggemann, nach 34 Jahren an der Deutschen Sporthochschule und davon 17 Jahre Leiter des Instituts für Biomechanik und Orthopädie verabschieden Sie sich in den Ruhestand. Zuvor dürfen Sie am 15. und 16. Juni aber noch als Mitgastgeber des Kongresses der internationalen Gesellschaft für Biomechanik in Erscheinung treten. Das klingt nach einem schönen Abschluss.
Ja. Ich bin sehr dankbar, dass es dem Kollegen Wolfgang Potthast gelungen ist, diesen Kongress an die Deutsche Sporthochschule nach Köln zu holen. Ich selbst habe das Privileg, ein Symposium zu gestalten, in dem es um die Dreiecksbeziehung zwischen Biomechanik, Technologie und Sport gehen wird. Die Diskussion darüber, wie sich der Sport durch Technologie verändert, ist hoch aktuell. Mittlerweile ist es möglich, biologische Antriebe hin zu technischen Antrieben zu entwickeln, das wirft spannende Fragen auf: Wie ist auch in Zukunft ein fairer Wettkampf möglich? Erreichen wir irgendwann den Punkt, dass Technik die Biologie dominiert?
Ab welchem Zeitpunkt wäre das aus Ihrer Sicht der Fall?
Das ist schwer zu sagen, aber es wird nicht mehr lange dauern, da werden Athleten vor der Frage stehen, ob sie zum Beispiel ein natürliches Gelenk durch ein künstliches Konstrukt ersetzen, um die eigene Leistung zu steigern. Im paralympischen Sport, wo ein doppelseitig amputierter Sportler Vorteile gegenüber einem einseitig Amputierten hat, ist dieses Thema schon jetzt relevant. Und das ist nicht nur ein naturwissenschaftliches Problem, vielmehr müssen hier auch ethische und philosophische Ebenen beachtet werden. Der Sport driftet in Bereiche hinein, in denen nicht mehr der Körper Leistungen bestimmt, sondern Technologie.
Das klingt nach kontroversen Debatten. Wenn man sich mit Ihrer Arbeit der vergangenen 30 Jahre befasst, stößt man aber vor allem auf ein weniger brisantes Thema: Sie haben intensiv an der Entwicklung von Sportschuhen gearbeitet.
Das war inhaltlich zwar nicht unbedingt der Schwerpunkt meiner Arbeit, aber dieses Projekt hat mich immer begleitet – aus einem ganz einfachen Grund: Der Schuh ist das Interface zwischen dem menschlichen Körper und der physikalischen Umgebung. Er kann Kräfte modulieren, und unser Wissen über Schuhe und ihre Funktion hat sich enorm erweitert. Damit war die Sportschuhforschung ein Teil unseres großen Themas, nämlich den Zusammenhang zwischen mechanischen Belastungen des muskuloskelettalen Systems und den biologischen Gewebeantworten besser zu verstehen.
Worin bestehen die zentralen Erkenntnisse, die Sie dazu über die Jahre sammeln konnten?
Als in den 1980er Jahren der Laufboom begann, ging es erstmal um Dämpfung. Man dachte, wenn die Leute laufen und auf diesen harten Asphalt prallen, würden sie sich verletzen. Und man ging davon aus, dass der Schuh diesen Impact dämpfen könne – beide Annahmen haben sich nicht bestätigt. Heute weiß man, dass die Stöße eher biopositiv für den Knochen und sogar für den Knorpel sind. Der Körper mit seinem neuromotorischen System ist viel besser in der Lage, einen Stoß zu dämpfen, als ein Schuh. Es ist ein hochintelligentes Fahrwerk, das sich sofort auf die Umgebung einstellt. Da kann die Technologie nicht viel ausrichten.
Wie ging die Entwicklung weiter?
Bei der nächsten Generation von Sportschuhen wurde versucht, die Pronation des Fußes zu unterbinden, weil man glaubte, so die Verletzungsgefahr durch Umknicken minimieren zu können. Doch wir haben schnell festgestellt, dass die Pronation eine ganz natürliche Bewegungsform ist, die man nicht durch die Gestaltung der Schuhe verhindern sollte. Zu Beginn dieses Jahrtausends entstand dann die Idee, dass der Schuh nicht nur schützen soll, sondern, dass er ein Trainingsgerät für die Füße sein kann, woraufhin unter anderem mit unseren Erkenntnissen der Nike Free entwickelt wurde.
Was ist das Besondere an diesem Schuh?
Er ist so konstruiert, dass er die Belastung für die einzelnen Strukturen des Fußes erhöht, um sie zu trainieren. Daraufhin gab es eine Riesendiskussion in der Industrie: Eine Firma, die mit ihrer „Nike Air“-Technologie lange die Führungsrolle in allen Fragen der Dämpfung hatte, machte plötzlich genau das Gegenteil: Die Belastung erhöhen. Mittlerweile haben wir aber wieder ein ganz neues Paradigma. Wir haben gelernt, dass jedes Gelenk einen Bewegungspfad hat, und wenn der verlassen wird, erhöht sich die Gefahr von Überlastung und Verschleiß. Es geht also darum, die Schuhe so zu bauen, dass die gewohnten Bewegungspfade des Fußgelenks und des Kniegelenks möglichst wenig gestört werden.
Sie haben mit Ihren biomechanischen Instrumenten aber auch völlig andere Dinge gemacht. Zum Beispiel waren Sie an der Aufklärung von Kriminalfällen beteiligt.
Es geht bei meiner Arbeit immer darum, Ereignisse zu rekonstruieren und zu verstehen, unterschiedliche Variablen auf eine kausale Ebene zu bringen. Und da sind wir ganz schnell bei forensischen Anwendungen: Jemand wird vor einem Haus aufgefunden, und oben ist ein geöffnetes Fenster oder ein Balkon. Wie kann es sein, dass der Tote mit dem zertrümmerten Schädel gerade so unten angekommen ist. Ist er gestürzt? Ist er gesprungen? Wurde er gestürzt? Oder ist er gefallen, weil irgendwas da oben am Geländer abgebrochen ist?
In diesem Rahmen haben sie auch den Unfall von Samuel Koch bei „Wetten, dass…“ untersucht.
Das war die gleiche Fragestellung: Warum ist dieses Ereignis eingetreten? Wir konnten zweifelsfrei zeigen, dass die Unfallursache ein bewegungstechnischer Fehler beim Absprung war. Eine minimale Abweichung mit großen Folgen.
Ihr Drang, besondere Phänomene zu verstehen, hat Sie bis nach Jamaika geführt, wo Sie untersucht haben, warum die Sprinter dort so unglaublich schnell sind. Haben sie Antworten gefunden?
Bei diesen Athleten wollten wir wissen, welche Besonderheiten ihr Körper aufweist. Wir konnten verstehen, welche Eigenschaften des Muskel-Sehnen-Systems den Erfolgen dieser Sprinter zu Grunde liegen. Die haben tatsächlich besonders gute biomechanische Voraussetzungen, um schnell zu laufen.
Nun stehen Sie kurz vor dem Ruhestand, reden aber noch voller Leidenschaft von ihrer Arbeit. Können Sie wirklich einfach so aufhören?
Ich habe noch eine ganze Menge Projekte und Ideen, die ich weiter betreiben möchte. Aber ich werde das nicht mehr nur in der Umgebung der Universität machen. Hier muss mal frisches Blut ran und jungen Leuten die Chance gegeben werden, sich zu profilieren.
Interview: Daniel Theweleit
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