Nr. 6/2017
Ich sehe was, was Du nicht siehst
Ein Fußballspieler, der einen freien Mitspieler übersieht und dadurch eine Torchance vereitelt, erntet vom Fernsehzuschauer oftmals Unverständnis: „Warum hat er den denn nicht gesehen?“. Eine Erklärung liefert das Phänomen „Inattentional Blindness“, die so genannte Unaufmerksamkeitsblindheit, ein Fehler in unserer bewussten Wahrnehmung. Die junge Psychologin Dr. Carina Kreitz beschäftigt sich an der Deutschen Sporthochschule Köln seit vier Jahren mit dem Phänomen Inattentional Blindness und schrieb darüber auch ihre Doktorarbeit. Kürzlich erhielt sie von der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie (asp) den Karl-Feige-Preis für ihre Dissertation mit dem Titel „Watching without seeing – Determinants and mechanisms of inattentional blindness“.
„Wenn wir von einer anderen Aufgabe abgelenkt sind, nehmen wir unerwartete Reize manchmal nicht bewusst wahr, obwohl sie direkt vor unseren Augen erscheinen. Übertragen auf den Sport ist das vor allem in Mannschaftssportarten relevant. Hier müssen die Sportler viele Reize gleichzeitig wahrnehmen: auf den Ball, die Mitspieler und Gegenspieler achten und die Anweisungen des Trainers an der Seitenlinie berücksichtigen. Da unsere Aufmerksamkeitsressourcen eingeschränkt sind, fokussiert sich der Sportler auf bestimmte Dinge und lässt notgedrungen anderes außer Acht. Dann kann es passieren, dass der Sportler Dinge, die unerwartet oder besonders selten vorkommen, komplett übersieht“, erklärt Kreitz die Relevanz dieses Phänomens auch für den Sport. Das Übersehen unerwartet auftauchender Objekte kann in alltäglichen Situationen wie zum Beispiel dem Straßenverkehr fatale Konsequenzen haben. Im Sportkontext mögen die Konsequenzen nicht so dramatisch sein; sie können allerdings einen ernstzunehmenden Einfluss auf die sportliche Leistung haben. Denn möglichweise hätte der frei im Zentrum anspielbare Teamkamerad das entscheidende Tor erzielt, während das Dribbling über den Flügel vom Außenverteidiger unterbunden wird.
Kreitz führte für ihre Doktorarbeit insgesamt 14 Experimente durch, in denen sie mehr als 2.500 Probanden testete. Ziel dieser aufwändigen Datenerhebungen war, die Einflussfaktoren auf und die zugrundeliegenden Mechanismen von Inattentional Blindness zu spezifizieren. Dabei konnte sie unter anderem frühere Befunde ergänzen, die zeigen, dass das Auftreten von Unaufmerksamkeitsblindheit stark von verschiedenen situativen Faktoren abhängt. Diese Rahmenbedingungen geben vor, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein unerwartetes Objekt gesehen wird oder nicht. Zu den Rahmenbedingungen zählen zum einen die Eigenschaften des unerwarteten Objekts (z.B. Größe, Farbe bzw. Kontrast). Probanden konnten sowohl statische als auch dynamische Reize häufiger entdecken, wenn diese näher am aktuellen Fokus der räumlichen Aufmerksamkeit erschienen. Und je länger das Objekt im Blickfeld verweilte, desto eher wurde es erkannt. Zum anderen beeinflussen Kontextfaktoren das Auftreten von Inattentional Blindness. Ein wichtiger Kontextfaktor ist dabei die Menge an Aufmerksamkeit, die im Gehirn für die Verarbeitung des unerwarteten Objekts zur Verfügung steht. Einfache Aufgaben, z.B. das reine Zählen von Pässen zwischen Basketballspielern, beanspruchen verhältnismäßig wenig kognitive Ressourcen. Im Kontext solch einfacher Aufgaben kommt es seltener als bei komplexeren Aufgabenanforderungen zu Fehlern der bewussten Wahrnehmung.
Neben den situativen Einflussfaktoren beschäftigte Kreitz sich auch mit interindividuellen Unterschieden. „Die genannten Befunde zur Aufgabenschwierigkeit werfen die Frage auf, ob dann folglich auch Personen, die generell über mehr kognitive Ressourcen verfügen, eine geringere Wahrscheinlichkeit haben, unerwartete Reize zu übersehen“, sagt Kreitz. Ihre Laborstudien kommen allerdings zu einem anderen Ergebnis, nämlich, dass es keine reliablen interindividuellen Unterschiede gibt. Vielmehr scheint bei der Frage, welche Person ein unerwartetes Objekt übersieht und welche es entdeckt, der Zufall eine entscheidende Rolle zu spielen. Kreitz: „Interindividuelle Unterschiede in kognitiven Fähigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften scheinen keine verlässlichen Parameter zu sein, um eine individuelle Anfälligkeit für Inattentional Blindness vorherzusagen.“
Unaufmerksamkeitsblindheit heißt also, dass Personen ein unerwartetes Objekt nicht bewusst wahrnehmen, obwohl es sich in ihrem Blickfeld befindet. Die Person würde sagen: „Nein, ich habe das nicht gesehen“. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass die Person das Objekt unbewusst doch verarbeitet. Dem Schicksal dieser nicht bewusst wahrgenommenen unerwarteten Objekte widmete sich Kreitz zusätzlich und konnte zeigen, dass unerwartete Objekte, die aufgrund von Inattentional Blindness nicht bewusst wahrgenommen werden, trotzdem tiefgehend verarbeitet werden. Und diese Verarbeitung kann wiederum unser Verhalten beeinflussen. „Wir haben hierbei herausgefunden, dass nicht nur das äußere Erscheinungsbild der übersehenen Objekte verarbeitet wird, sondern sogar ihre inhaltliche Bedeutung“, erklärt die Wissenschaftlerin. Inwiefern man diese Erkenntnis auf den Sport übertragen könnte, ist eine Frage, mit der sich Kreitz derzeit beschäftigt.
„Meine Forschung zeigt vor allem, dass es keine interindividuell unterschiedliche Neigung zu Inattentional Blindness gibt“, fasst Kreitz zusammen. Auf den organisierten Sport übertragen, könnte das z.B. bedeuten, dass Vereine keine Anstrengungen unternehmen brauchen, Spieler gezielt nach ihrer Fähigkeit, unerwartete Reize wahrzunehmen, auszuwählen. Im Zusammenhang dieser Fehler der bewussten Wahrnehmung wäre es auch nicht zielführend, die kognitiven Fähigkeiten der Sportler (wie z.B. Arbeitsgedächtnisleistung, Unterscheiden zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen, Aufmerksamkeitsbreite) aufwändig zu trainieren. Lediglich Expertise in einer Sportart scheint die Anfälligkeit für Inattentional Blindness zu senken. Allerdings: Auch allerhöchste Expertise ist kein vollkommener Schutz gegen das Übersehen relevanter Reize und kann mit einer gewissen (wenn auch kleineren) Wahrscheinlichkeit auch hochgeschulte Athleten treffen.
Zuletzt ist als sehr zentraler Einflussfaktor für das Auftreten von Inattentional Blindness die Verteilung der begrenzten Aufmerksamkeitsressourcen zu erwähnen. Frühere Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, einen unerwarteten Reiz, z.B. einen plötzlich freistehenden Mitspieler, zu übersehen, höher ist, wenn von außen verstärkt Instruktionen kommen. „Wenn der Trainer von außen gezielte Handlungsanweisungen vorgibt, z.B. dass der Torwart beim nächsten Rückpass direkt einen schnellen Konter einleiten soll, dann wird der Aufmerksamkeitsfokus des Torwarts sehr eingeschränkt und er nimmt eine andere, möglicherweise sogar erfolgversprechendere Option vielleicht gar nicht wahr“, erklärt Kreitz. „Als Trainer muss man sich überlegen, was man möchte: eher vorgegebene, standardisierte, häufig einstudierte Spielzüge, die dann auch gut funktionieren, mit denen aber auch die ein oder andere unerwartete Torchance ungenutzt bleibt. Oder ein breites Repertoire an Möglichkeiten und der stetige Hinweis auf unerwartete Konstellationen“, schlägt Kreitz den Bogen zum Spiel- und Trainingsbetrieb.
Text: Julia Neuburg