Nr. 6/2019
Bewegungslernen besser verstehen
Der Proband sitzt vor einer Holzkonstruktion, in die ein Bildschirm eingebaut ist. Das Ganze erinnert etwas an eine Großformatkamera, bei der der Fotograf unter ein schwarzes Tuch schlüpft. Allerdings wird bei diesem Versuchsaufbau nicht der Kopf verhüllt, sondern die Hand des Probanden. Er hat die Aufgabe, erst mit der einen, dann mit der anderen Hand Zeigebewegungen auf Zielpunkte mit einem Stift auszuführen. Die Wissenschaftler*innen wollen mit Hilfe dieses neurowissenschaftlichen Forschungsprojektes herausfinden, wie sich ein bewusster Lernprozess von motorischen Aufgaben auf den Transfer zwischen geübter und nichtgeübter Hand sowie auf neue Bewegungsrichtungen auswirkt.
Seit dem Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere beschäftigt sich Projektleiterin Dr. Susen Werner vom Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft der Deutschen Sporthochschule Köln damit, wie Menschen Bewegungen erlernen. Das sogenannte motorische Lernen ist mit komplexen Prozessen im Gehirn verbunden. „Eine spezielle Form des motorischen Lernens ist die sensomotorische Adaptation. Sie tritt immer dann auf, wenn bereits bestehende motorische Verhaltensweisen angepasst werden müssen, zum Beispiel, weil sich die Umweltbedingungen ändern. Dies spielt sowohl bei Alltagshandlungen als auch im Sport eine wichtige Rolle“, erklärt Werner. Die sensomotorische Adaptation gehört zu den grundlegenden Mechanismen, auf denen ihre Forschungsarbeit basiert.
Ein Beispiel aus dem Alltag: Für routinierte Autofahrer*innen ist es zunächst ungewohnt, das erste Mal mit einem neuen Auto zu fahren. Man muss sich daran gewöhnen, wie stark die Bremse reagiert oder wie groß der Wenderadius ist. Auch im Sport spielen solche Veränderungen der Umweltbedingungen eine wichtige Rolle, zum Beispiel wenn eine Tennisspielerin das erste Mal mit einem neuen Schläger spielt, der etwas schwerer ist als das Vorgängermodell, oder wenn ein Biathlet ein neues Gewehr benutzt. Sensomotorische Adaptation beschreibt die Anpassungsprozesse, die mit den veränderten Rahmenbedingungen einhergehen. Erfolgt die Anpassung über eine visuelle Rückmeldung, spricht man von visuomotorischer Adaptation. Sie beinhaltet beides: unbewusste und bewusste Anpassungen.
In ihren Forschungsprojekten zur visuomotorischen Adaptation interessiert sich Susen Werner unter anderem dafür, wie eine bereits gelernte Bewegung von einer Hand auf die andere, die die Bewegung bisher noch nicht gelernt hat, übertragen wird – der sogenannte intermanuelle Transfer. Die Wissenschaftlerin möchte herausfinden, inwiefern sich verschiedene Probandengruppen an neue Handbewegungsvorgaben anpassen und welche Faktoren den intermanuellen Transfer beeinflussen. Die Ergebnisse ihrer Messungen wurden jüngst im Artikel „Intermanual transfer of visuomotor adaptation is related to awareness“ veröffentlicht, die in Zusammenarbeit mit Opher Donchin von der Ben-Gurion-Universität des Negev, Be‘er Scheva, Israel, entstand.
„Wir haben herausgefunden, dass intermanueller Transfer klar mit dem expliziten Wissen über das Gelernte zusammenhängt. Bisher gab es in diesem Bereich einige Widersprüche. Wir konnten nun nachweisen, dass der intermanuelle Transfer der Bewegung umso größer ist, je stärker sich die Probanden ihrer Übungsaufgabe und des Gelernten bewusst sind“, fasst Susen Werner das entscheidende Ergebnis der Studie zusammen. Um dies zu testen, mussten die Proband*innen im eingangs beschriebenen Versuchsaufbau mit einem Stift auf Zielpunkte zeigen, ohne dass sie ihre aktive Hand und die reale Bewegungsrichtung selbst sehen konnten. Um zu messen, inwiefern eine Anpassung stattfindet, wurde die visuelle Rückmeldung anschließend durch ein Computer-Programm verändert: Die Proband*innen sahen nun nicht mehr die tatsächliche Richtung ihrer Zeigebewegung, sondern eine um 30 beziehungsweise 75 Grad um den Ausgangspunkt gedrehte Rückmeldung. „Die Proband*innen führten den Stift dann zwar zum Beispiel nach vorne, mit Hilfe der Verzerrung wurde der Cursor auf dem Bildschirm aber verändert und ging beispielsweise nach rechts. Durch Üben gelang es den Proband*innen, sich an diese Veränderung anzupassen, und sie schafften es nach und nach auch unter diesen Bedingungen, die Zielpunkte mit dem Cursor zu treffen“, erklärt Werner.
Im Rahmen des Experiments wurden vier verschiedene Bedingungen getestet: eine Veränderung im großen Winkel (75°) und im kleineren Winkel (30°), jeweils plötzlich eintretend oder schrittweise ansteigend (graduell). Bisherige Studien konnten zeigen, dass Proband*innen eine schrittweise Veränderung der visuellen Rückmeldung eher automatisch und daher unbewusst wahrnehmen. Die plötzliche Veränderung hingegen wird bewusst gelernt. „Wir sprechen bei diesem Phänomen von implizitem oder explizitem Lernen. Bisher nahm man an, dass schon eine relativ kleine Veränderung der visuellen Rückmeldung, in unserem Fall eine Rotation von 30 Grad, explizit wahrgenommen wird. Bei unserer Testreihe hat sich aber herausgestellt, dass die Proband*innen erst bei viel größeren visuellen Veränderungen eine klare Bewusstheit des Gelernten entwickeln“, sagt Werner.
Um zu prüfen, welches Wissen bewusst oder unbewusst vorlag, wendeten die Wissenschaftler*innen einen Test aus der Kognitionspsychologie an: die sogenannte Process Dissociation Procedure (PDP). Deren Einsatz erklärt Susen Werner wie folgt: „Der PDP-Test basiert auf der Annahme, dass man etwas kontrollieren kann, wenn es einem bewusst ist. Um das zu überprüfen, mussten unsere Proband*innen am Ende der Testreihe entweder das Gelernte wiederholen oder die ursprüngliche Bewegung vor dem Üben ausführen. Aus dem Unterschied zwischen den beiden Aktionen konnten wir dann den bewussten und den unbewussten Anteil des Erlernten und am Ende einen Index berechnen.“ In die Sportpraxis übersetzt bedeutet das Ergebnis der Studie unter anderem, dass es beim Anpassen einer Bewegung auf veränderte Umgebungsbedingungen für den Transfer zwischen zwei Extremitäten wichtig ist, bewusst zu lernen.
Als Dozentin für Zweikampfsport und selbst aktive Aikidoka hat Susen Werner schon jetzt Ideen, wie sie die Forschung zum motorischen Lernen weiterführen möchte. „In einer anderen Studienreihe testen wir momentan Kampfsportler. Im Kampfsport müssen häufig beidhändig koordinierte Bewegungen ausgeführt werden. Das macht die Athlet*innen für uns interessant. Wir stellen sie zum Beispiel Kampfsport-Anfängern, Nicht-Kampfsportlern und Nicht-Sportlern gegenüber, um zu prüfen, ob beim intermanuellen Transfer auch die Kommunikation zwischen beiden Hirnhälften eine Rolle spielt“, sagt Werner. Außerdem interessiert sich die Wissenschaftlerin für Testungen, bei denen Virtual-Reality-Umgebungen zum Einsatz kommen: „Virtual Reality bietet zahlreiche Möglichkeiten, in unseren Experimenten einen direkten Anwendungsbezug herzustellen. Zum Beispiel können wir so sportspezifische Bewegungen oder alltagsnahe Umgebungen integrieren.“
Susen Werner betreibt in ihren Projekten, wie sie selbst sagt, „klassische Grundlagenforschung“. Allerdings seien mögliche Anwendungsszenarien stets mitgedacht. Das Projekt zum intermanuellen Transfer könne etwa für den Einsatz von Handprothesen interessant sein, die inzwischen neuronal verschaltet sind. „Wenn man die genauen Prozesse des Transfers versteht, kann man eventuell bessere Reha-Maßnahmen für Menschen entwickeln, die an einer Extremität eine Prothese tragen“, sagt Werner. Reizvoll daran findet sie, dass man mit relativ einfachen standardisierten Laborexperimenten eine große Bandbreite von Prozessen untersuchen kann – alles mit dem Ziel, die neuronalen Mechanismen besser zu verstehen.
Text: Julia Neuburg
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