Nr. 6/2021
Die IOC-Athletenkommission: Ernennung, Wahlen und Wirken
Als Meilenstein der Olympischen Geschichte oder Aufbruch in die moderne Ära des olympischen Sports wird er mitunter bezeichnet: der Olympische Kongress von 1981 in Baden-Baden. Er stand nicht nur im Schatten massiver (sport-)politischer Spannungen – die Olympiaboykotte der Jahre 1976 und 1980 hatten die olympische Bewegung an den Rand ihrer Existenz geführt. Die elfte Kongressauflage gilt auch als eine, die sich durch besonders bedeutsame und nachhaltige Beschlüsse auszeichnete, unter anderem wurde dort festgelegt, eine Athlet:innenkommission innerhalb des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) zu gründen. Wie sich diese Kommission von 1981 bis 2000 entwickelt hat, hat Univ.-Prof. Dr. Stephan Wassong, Leiter des Instituts für Sportgeschichte und Direktor des Zentrums für Olympische Studien, recherchiert, analysiert und kürzlich in einer Sonderausgabe des International Journal of the History of Sport veröffentlicht. Der Titel des Artikels lautet: The Membership Composition of the Athletes’ Commission of the International Olympic Committee: Between Appointments and Elections, 1981–2000.
Die vorliegende Studie skizziert, wie sich die Zusammensetzung der Athletenkommission (AK) im Laufe der Jahre verändert hat und welche sportpolitischen Ereignisse dies beeinflusst haben. Der Autor führt eine detaillierte Analyse dieser Transformationsprozesse zwischen 1981 und 2000 durch. „Als Primärquellen für die Analyse sind vor allem die Sitzungsprotokolle und Arbeitspapiere der Athletenkommission sowie die Protokolle der IOC-Sessionen und des IOC-Exekutivkomitees herangezogen worden. Eine Archivsperre für die Protokolle der Athletenkommission wurde für diese Untersuchung dankenswerterweise vom Olympic Studies Centre des IOC aufgehoben, was aus wissenschaftlicher Sicht sehr hilfreich war, um die Hauptargumente der Studie zu erarbeiten und zu sichern“, sagt Prof. Wassong.
Die Geschichte der IOC-Athletenkommission beginnt auf dem Kongress in Baden-Baden, auf dem erstmals Athlet:innen ein Rederecht erhielten. Die Auswahl der sechs Redner:innen traf das finnische IOC Mitglied Peter Tallberg. Der mehrfache Olympiateilnehmer im Segeln wurde vom damaligen IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch mit der Betreuung der rund 30 eingeladenen Athlet:innen beauftragt; darunter unter anderem der Deutsche Thomas Bach, heutiger IOC-Präsident. Sebastian Coe (Großbritannien), heutiger Präsident des Leichtathletikweltverbandes World Athletics, durfte für die Abschlusserklärung der Athlet:innen das Wort ergreifen und forderte darin auch die Einrichtung einer Athletenkommission im IOC. „Hierbei wurde Coe von vielen Delegierten unterstützt, darunter auch IOC-Präsident Samaranch, der den Athleten selbst die Aufgabe gab, Vorschläge und Empfehlungen für ihre Kommission zu erarbeiten“, schildert Wassong die ersten Schritte. Die IOC-Exekutive nahm die Vorschläge ohne Änderungen an, gab ihr Ok für die Einrichtung der Kommission und Samaranch ernannte die sechs Redner aus Baden-Baden zu den ersten Mitgliedern der Athletenkommission und Peter Tallberg zum Vorsitzenden.
Zunächst ging es für die AK darum, organisatorische Dinge festzulegen und sich selbst eine Themenagenda zu geben. „Die Hauptziele der Athletenkommission sind die Sicherstellung der Zusammenarbeit zwischen den an den Olympischen Spielen teilnehmenden Athleten und dem IOC und seinen Kommissionen, um so die Ziele der Olympischen Bewegung, wie sie in der Olympischen Charta definiert sind, zu fördern“ – so lautete schließlich die Klausel, die die IOC-Exekutive genehmigte. Über diese allgemeine Formulierung hinaus, nahmen sich die Athlet:innen vor, sich mit der Rolle der Politik und deren Einmischung in die Olympische Bewegung zu befassen, aber auch mit der Stärkung des Anti-Doping-Kampfes, dem Frauen-Anteil im IOC und bei den Olympischen Spielen und einer liberaleren Zulassungsregel. Festgelegt wurde zudem, wer grundsätzlich Mitglied der Athletenkommission sein kann: ein auf internationaler Ebene aktiver Athlet oder ein ehemaliger Athlet, dessen letzte Wettbewerbsteilnahme auf internationaler Ebene längstens acht Jahre zurückliegt und der vorzugsweise mindestens einmal an Olympischen Spielen teilgenommen hat.
In den folgenden Jahren erhöhte die AK die Zahl ihrer Mitglieder von neun auf 14. Gemäß der Olympischen Charta wurden alle Mitglieder vom IOC-Präsidenten ernannt. Zwar berücksichtigte dieser die von der Kommission vorgeschlagenen Namen, allerdings hatten die Mitglieder tatsächlich nur indirekten Einfluss auf die Erweiterung und die Zusammensetzung der Kommission. „Diese Begrenzung der Zuständigkeit blieb bis Mitte der 1990er Jahre ein stabiles Konstrukt und ist ein interner Hinweis darauf, dass das IOC der Athletenkommission grundsätzlich eher zurückhaltend gegenüberstand“, ordnet Wassong die Machtverhältnisse der ersten Dekade ein.
Mitte der 1990er Jahre trat die IOC-Athletenkommission in eine neue Phase ein. Aufgrund verschiedener Entwicklungen auf dem Gebiet der internationalen Sportgerichtsbarkeit sollte die Zusammensetzung der AK unabhängiger werden, das heißt die Mehrzahl der Mitglieder sollte nicht mehr ernannt, sondern gewählt werden. Die AK sollte wiederum selbst einen Vorschlag zum Wahlprozedere erarbeiten und dem IOC-Exekutivkomitee präsentieren. Die wesentlichen Punkte wurden in einem zentralen Entwurf zusammengefasst, dem „Draft Proposal – Election of Part of the Athletes' Commission“. Das Dokument enthielt Empfehlungen zur Quote der gewählten und ernannten Athlet:innen, zum Wahlverfahren selbst und zur Wählbarkeit der Kandidat:innen. Die Zahl der Mitglieder sollte erneut steigen, um die Meinungsvielfalt zu verbessern. Zehn der maximal 19 Mitglieder sollten von den Athlet:innen gewählt, die restlichen neun Plätze würden durch den IOC-Präsidenten vergeben werden. „Diese Regelung hatte den Vorteil, dass die Athlet:innen per Wahl zwar die Mehrheit der Kommission besetzen konnten, dass aber dem IOC-Präsidenten die Möglichkeit gegeben wurde, Parameter auszugleichen, die durch das Wahlverfahren nicht hätten erreicht werden können, etwa eine ausgewogene Vertretung der Geschlechter und Nationalitäten oder ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Mannschafts- und Einzelsportarten sowie Sommer- und Wintersportarten“, erklärt Wassong das Wahlprozedere. Die IOC-Exekutive stimmte dem Vorschlag zu und nahm diesen Anfang 1995 als neue Klausel in die Olympische Charta auf. Die erste offizielle Wahl zur Besetzung der IOC-Athletenkommission fand bei den Olympischen Sommerspiele 1996 in Atlanta statt, im Rahmen derer die Athlet:innen im Olympischen Dorf persönlich und geheim wählen konnten. 54% aller an den Sommerspielen teilnehmenden Athlet:innen nahmen diese Gelegenheit wahr; sieben Athlet:innen wurden als neugewählte Mitglieder in die AK aufgenommen und drei weitere vom IOC-Präsidenten bestimmt. Die endgültige Zusammensetzung der AK stand dann nach den Olympischen Winterspielen 1998 in Nagano fest und blieb in dieser Konstellation bis zu den Olympischen Spielen 2000 in Sydney bestehen.
Ende der 1990er Jahre erschütterten zwei große Sportskandale den olympischen Sport: der Dopingskandal bei der Tour de France (auch bekannt als „Festina-Affäre“) und der Bestechungsskandal um die Vergabe der Olympischen Winterspiele an Salt Lake City; beides ereignete sich 1998. „Das IOC sah sich damals heftigen Vorwürfen ausgesetzt. Die Athletenkommission befürchtete, dass sich die Skandale rund um das IOC negativ auf das Image aller Sportler:innen auswirken könnten. Sie forderte daher, dass sie stärker in Entscheidungsprozesse einbezogen werden sollte, um die Transparenz und Glaubwürdigkeit der olympischen Bewegung wiederherzustellen“, erklärt Wassong. Damit begann die – wie Wassong schreibt – zweite wichtige Übergangsphase der AK. Ein Ziel des Reformprozesses sollte sein, den Fokus wieder auf den olympischen Sport selbst und die Sportler:innen als Hauptakteure zu lenken. Daher wurden die Mitglieder der AK in die IOC 2000 Reform Commission berufen. „Zweifellos war die Reformkommission eine gute Gelegenheit für die Athleten, zu den Reformdiskussionen und -vorschlägen beizutragen, die wiederum auch zu einer neuen Zusammensetzung der Athletenkommission führte. Letztlich wurde beschlossen, dass 15 Mitglieder der Athletenkommission auch IOC-Mitglieder werden sollten, zwölf Athleten, die in die AK gewählt und drei, die vom IOC-Präsidenten ernannt wurden. Die Amtszeit variierte zunächst zwischen vier und acht Jahren und war abhängig von den erhaltenen Wahlstimmen. Zudem sollte jeweils der Vorsitz der Athletenkommission einen Platz im Exekutivdirektorium des IOC erhalten. Die Tatsache, dass diese Neuerungen in die Neuauflage der Olympischen Charta aufgenommen wurden, die 2000 in Kraft trat, zeugt von der Akzeptanz und dem Vertrauen in die zunehmende institutionelle Mitsprache der Athleten“, erklärt Wassong.
Heute hat die Athletenkommission einen „einzigartigen Status“, was die Zusammensetzung ihrer Mitglieder betrifft. „Im Gegensatz zu anderen IOC-Kommissionen wird die Mehrheit ihrer Mitglieder gewählt und nicht vom Präsidenten ernannt. Darüber hinaus haben die gewählten Mitglieder seit 2000 eine achtjährige Amtszeit im IOC. Die Zusammensetzung der Kommission und das Wahlprozedere sind bis heute nahezu unverändert“, bilanziert Wassong.
Text: Julia Neuburg
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Stephan Wassong
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