Nr. 8/2018
Selbstbestimmte Mobilität und Bewegung im Alltag
In Artikel 20 der UN-Behindertenrechtskonvention heißt es, dass wirksame Maßnahmen getroffen werden müssen, „[…] um für Menschen mit Behinderungen persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen […]“. Genau hier setzt das MoBA-Projekt des Forschungsinstituts für Inklusion durch Bewegung und Sport (FiBS), einem An-Institut der Deutschen Sporthochschule, an. Im Rahmen des Projektes ist ein Konzept entwickelt worden, das eine Bewegungsförderung im Alltag für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung hinsichtlich der sportmotorischen Leistungsfähigkeit evaluiert. Ein Interview mit Projekt-Mitarbeiterin Dr. Carolin Stangier vom Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft.
Frau Stangier, wofür steht die Abkürzung MoBA?
MoBA steht für selbstbestimmte Mobilität und Bewegung im Alltag. Ziel unseres Projektes war es, ein tragfähiges Konzept zu erarbeiten, das Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in ihrer individuellen Mobilität stärkt – denn die ist der Schlüssel zur größtmöglichen Selbständigkeit, die unter anderem auch in der UN-Behindertenrechtskonvention niedergeschrieben steht. Unser Fokus lag auf der Entwicklung von Bewegungs- und Mobilitätsangeboten, die sich in den Alltag von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in betreuten Wohnformen integrieren lässt. Zwei Aspekte der Mobilität standen für uns im Vordergrund: die Verbesserung der motorischen Fähigkeiten auf der einen Seite und mobil sein, von A nach B kommen, auf der anderen Seite. Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung sind nach wie vor oft stark auf die Unterstützung ihrer Betreuerinnen und Betreuer angewiesen und dadurch in ihren Möglichkeiten zur Gestaltung des Alltags und der Freizeit eingeschränkt. Optimalerweise sollten sie ihren Aktionsradius und die damit verbundene soziale Teilhabe selbstbestimmen können. Finanziert wurde das Projekt von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW.
Welche Einrichtungen haben an dem Projekt teilgenommen und wie sah das Probandenkollektiv aus?
Nach der Projektkonzeption fand die eineinhalbjährige Interventionsphase statt. Das FiBS hat eine Ausschreibung gemacht, auf die sich sechs Träger aus dem Großraum Köln gemeldet haben: die Caritas, die Diakonie, die Lebenshilfe, die Hephata, die Gemeinnützigen Werkstätten Köln (GWK) und die Paul Kraemer Stiftung. Jeder dieser Träger hat aus den Projektgeldern einen Projektkoordinator finanziert, der unsere Schnittstelle zu den Einrichtungen während der kompletten Projektlaufzeit war. Insgesamt haben 244 Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung an dem Projekt teilgenommen: 118 Frauen und 126 Männer. 159 gehörten der Interventionsgruppe an und 85 der Kontrollgruppe. Im Durchschnitt waren die Teilnehmenden 44 Jahre alt.
Welche Übungen mussten die Bewohnerinnen und Bewohner durchführen?
Während der Interventionsphase sollten die Teilnehmenden der Interventionsgruppe bis zu drei zusätzliche primär niederschwellige Bewegungsangebote in ihren Alltag integrieren. Dies konnten Gruppenangebote sein, wie klassische Mannschaftssportarten, Tanzen und Kegeln oder individuelle Angebote, wie beispielsweise Spazierengehen, Garten- und Hausarbeit. Zur Evaluierung dieser Bewegungsangebote wurde von uns eine Testbatterie entwickelt, die alle fünf motorischen Hauptbeanspruchungsformen abdeckt. Das waren zum Beispiel Modifikationen eines Hand-Grip-Strength-Tests und Sit-to-Stand-Tests für die Kraft oder der Sit-and-Reach-Test für die Beweglichkeit. Klassische Feldtests. Es gab auch jeweils Alternativen für Rollstuhlnutzer. Neben den unterschiedlichen sportmotorischen Testungen haben wir allgemeine gesundheitliche Risikofaktoren erhoben. Zusätzlich führten wir noch einen Kognitionstest am Tablet zur Überprüfung der Einfachreaktion durch und stellten drei Alltagsaufgaben. Diese bestanden darin, eine Jacke an- und auszuziehen, verschiedene Gegenstände aus verschiedenen Höhen aufzuheben und kleine Vorhängeschlösser in drei verschiedenen Größen aufzuschließen. Außerdem wurde ein umfangreiches Interview durchgeführt, zur Lebensqualität, Freizeitgestaltung und Mobilität. Alle Aufgaben wurden als spielerische Geschichte präsentiert und die Testtage haben wir dann Bewegungstage getauft, um einen Erlebnischarakter für die Teilnehmenden zu kreieren und sie zur Teilnahme zu motivieren.
Welche Einschlusskriterien lagen vor?
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mussten volljährig sein, eine kognitive Beeinträchtigung haben und in einer betreuten Wohnform wohnen.
Welche Ergebnisse gibt es bislang?
Ein griffiger Parameter, unter dem sich jeder etwas vorstellen kann, ist, dass die Teilnehmenden aus der Interventionsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe ihre Alltagsaktivität signifikant steigern konnten. Im Einzelnen hat sich zum Beispiel die maximale Gehdistanz im Ausdauertest über sechs Minuten signifikant verbessert um durchschnittlich 28 Meter. Im Vergleich zu vorher konnten sie zudem 22 Sekunden länger ihr Gleichgewicht halten. Eine weitere positive Bilanz ist, dass die Interventionsgruppe ihr Körpergewicht halten konnte. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung haben Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung häufig mit Übergewicht oder sogar Adipositas zu kämpfen. Essen ist bei den Bewohnern ein großes Thema, da es einer der wenigen Bereiche ist, wo sie mehr oder weniger selbst bestimmen können. Eventuell erschließt sich hier auch ein Nachfolgeprojekt, bei dem es um Gesundheitsaufklärung für Erwachsene mit kognitiver Beeinträchtigung gehen soll.
Kann eine positive Bewegungskultur in den Einrichtungen durch das Konzept dauerhaft aufrechterhalten werden?
Das diskutieren wir regelmäßig mit den Projektkoordinatoren, vor allem vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeit. Die Interventionsphase ist seit Juli abgeschlossen. Ein großes Ziel des Projektes war es von Anfang an auch, die Bewegungsangebote so auszuwählen, dass sie im Anschluss weiter angeboten werden können. Häufig fehlt nach Projektabschluss Geld oder Motivation. Hier können wir aber sagen, dass es in allen sechs Einrichtungen wirklich gut läuft. Das ist natürlich auch immer abhängig von der jeweiligen Leitung, wie sie hinter dem Projekt und hinter dem Thema Bewegung steht. Das muss von oben, top down, vorgelebt werden und auch in den Leitlinien der Einrichtungen verankert sein, so dass es auch in das Bewusstsein der Mitarbeitenden vordringt. Viele Angebote haben sich auch nach der eineinhalbjährigen Interventionsphase in den Einrichtungen und in den Alltag der Bewohner und Bewohnerinnen etabliert. Bei einem Träger, der viele Schwimmangebote im Programm hat, gab es eine große Erfolgswelle bei den abgelegten Schwimmabzeichen. Ein Bewohner hat es in der Zeit sogar vom Seepferdchen bis zum Silberabzeichen geschafft. Das sind persönliche Erfolge, die sehr wichtig sind für das Selbstvertrauen und für den Schritt hin zu größerer Selbständigkeit. Manche unserer Probanden sind mittlerweile und durch die Intervention in Angeboten von Sportvereinen aktiv. Insgesamt sind wir mit der Nachhaltigkeit sehr zufrieden.
Gibt es Erkenntnisse darüber, inwieweit Ihr Projekt das soziale Miteinander fördert?
Wir haben das nicht gezielt erhoben. Aber aus Erfahrungsberichten weiß ich, dass sich viele Bewohnerinnen und Bewohner über die Bewegungsangebote kennengelernt haben. Aufgrund der unterschiedlichen Wohnformen, stationär, teilstationär und ambulant, ist das nicht zwingend gegeben. Zudem sind viele in Werkstätten tätig, wo aus unterschiedlichen Trägern Bewohner zusammen kommen; die haben sich dort wiedererkannt und so sind über das MoBA-Projekt neue Bekanntschaften entstanden.
Lässt sich das Konzept auf andere Einrichtungen übertragen?
Ja. Neben dem klassischen Abschlussbericht werden auch Handlungsempfehlungen folgen, in denen ganz plastisch, sowohl für Betreuerinnen und Betreuer als auch für Bewohnerinnen und Bewohner, Handlungsempfehlungen niedergeschrieben werden, wie sich mehr Mobilität in den Alltag integrieren lässt. Das soll dann auch trägerübergreifend, für die komplette Eingliederungshilfe umsetzbar sein. Und am 29. November veranstaltet das FiBS eine kostenfreie Fachtagung im Kölner RheinEnergieStadion. Dort stellen wir die Ergebnisse des MoBA-Projektes vor.
Interview: Lena Overbeck
Seit Dezember 2018 ist Carolin Stangier nicht mehr an der Deutschen Sporthochschule Köln tätig.