Nr. 1/2020

Wildor Hollmann - ein Porträt zum 95. Geburtstag

„Ein Porträt über mich zu schreiben, ist eine undankbare Aufgabe“, sagt Prof. Hollmann. Das stimmt wohl. In 95 Lebensjahren, davon 70 in Forschung und Lehre, ist alles über ihn gesagt und geschrieben worden. Wildor Hollmann, geboren 1925, ist der (dienst)älteste Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln. Noch immer hält er Vorlesungen in seinem Fach, der Sportmedizin, und manchmal unternimmt er auch akademische Ausflüge in die Hirnforschung oder die Quantenphysik.

1958 gründete er das Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin, sieben Jahre später folgte er dem Ruf auf den Lehrstuhl für Kardiologie und Sportmedizin an der Sporthochschule; etwa zu dieser Zeit begann auch sein internationaler Aufstieg. In den 1960er Jahren revolutionierte er die Herzinfarkttherapie als er herausfand, dass es die Rehabilitation der frisch operierten Patient*innen enorm verbessert, wenn sie sich möglichst schnell wieder bewegen. Das Herz-Kreislaufsystem profitierte derart, dass die Medikamentengabe reduziert und die Patient*innen früher entlassen werden konnten. Insbesondere Hollmanns US-amerikanische Kolleg*innen lehnten diesen Ansatz jahrelang ab und hielten fest an dem Dogma der wochenlangen Bettruhe. Nach elf Jahren Forschung erkannte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Hollmanns Therapie an. Seitdem ist das „Kölner Modell“ weltweit unumstritten. „Das war mein wichtigstes klinisches Ergebnis“, sagt er heute.

Ehrendoktorwürden internationaler Universitäten, Schulterband zum Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern, Ehrenbürgerschaften, über 800 Publikationen, über 1.000 betreute Diplomarbeiten – die Liste seiner Titel, Auszeichnungen und Ämter ist unüberschaubar. Mehr kann man als Wissenschaftler nicht erreichen. Er selber sagt, er sei nur „zufällig“ in alles hineingeraten. Fest steht, dass er schon in frühen Jahren in die Stürme der Geschichte geraten ist. Soldat der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg, Verletzungen, Gefangenschaft. „Es war Zufall, dass ich das überlebt habe.“ Oder vielleicht war es auch die Kraft seines Geistes, seines eisernen Willens. Denn das ist seine unerschütterliche Überzeugung: „Wir können den Körper mit unserem Geist beherrschen lernen. Sogar die Angst. Ich war schon als Jugendlicher mit Todesangst konfrontiert, so wie alle Soldaten. Und ich habe erlebt, dass diejenigen zuerst fielen, die die meiste Angst hatten.“

1947 nahm er ein Medizinstudium in Köln auf und begann mit experimentellen Forschungen. Er wollte Arzt werden wie sein Großvater, gleichzeitig trieb ihn der Forschergeist an. Die Suche nach gesunden Probanden führte ihn schließlich von der Kölner Universitätsklinik an die SpoHo. „Ich dachte, dort wimmelt es von jungen, gesunden Menschen.“ So war es. Auf Anhieb fanden sich 101 Studierende, die an seinen Forschungen teilnahmen. Sein ganzes wissenschaftliches Leben führte ihn die Erkenntnis, dass jede körperliche Bewegung Auswirkungen auf jedes biologische System hat, das Gehirn eingeschlossen. Training hat einen entscheidenden Einfluss bei Prävention, Therapie und Rehabilitation, genauso wie bei Gesunderhaltung und Leistungssteigerung von Gesunden – vom Kindes- bis zum Seniorenalter. Heute erscheint diese Aussage wenig überraschend, aber es war Hollmann, der das herausfand. Pionier war er auch, als er 1959 das Fahrradergometer einführte, das heute in jeder Arztpraxis steht. Er beschäftigte sich als erster mit der Blutdruckmessung bei körperlicher Arbeit und mit dem Training unter Sauerstoffmangelbedingungen. Der SpoHo diente er 14 Jahre lang als Prorektor, Rektor und Dekan der medizinisch-naturwissenschaftlichen Fakultät. In dieser Zeit setzte er die Anerkennung der Deutschen Sporthochschule als eigenständige wissenschaftliche Hochschule mit Promotions- und Habilitationsrecht durch, die einzige ihrer Art. Unter seiner Führung wurde sie großzügig ausgebaut.

Gleichzeitig war er ab 1958 20 Jahre lang internistischer Arzt der Deutschen Fußballnational- mannschaft. 1968 fanden die Olympischen Spiele in Mexico City statt. Die Presse beschwor im Vorfeld die Risiken eines Sportwettkampfes auf einer Höhe von 2.310 Metern. „Der Tod läuft mit – so hieß es“, erinnert sich Hollmann. Doch er blieb gelassen. Er wusste, dank einer Apparatur, mit der man die Auswirkungen von Höhe oder Tiefe auf den Körper simulieren konnte, dass keine Gefahr für die Athlet*innen bestand. Ihre Leistungsfähigkeit würde vermindert, sonst nichts. „Der ehemalige französische Sportminister Maurice Herzog, damals IOC-Mitglied, kam vor den Spielen auf mich zu und fragte, welche Bedingungen ein Trainingslager für die Olympioniken erfüllen müsste“, erzählt Hollmann. Es müsse auf mindestens 2.000 Meter Höhe liegen, so seine Antwort. Doch Herzog fand in den französischen Alpen keinen solchen Ort, der bezahlbar gewesen wäre. So trainierten die Sportler*innen schließlich auf 1.700 Metern. Hollmann untersuchte zehn von ihnen nach den Spielen und stellte fest, dass diese Höhe keinerlei Auswirkungen auf ihr Herz-Kreislaufsystem und damit auf ihre Leistung hatte. „Sie hätten es sich einfach sparen können“, beendet Hollmann diese Anekdote.

Für ihn selber überraschend wurde er 1986 an die Spitze des Weltverbandes für Sportmedizin gewählt. Als Präsident der Sportmediziner aus 134 Nationen bereiste er acht bis zehn Länder im Jahr, verbrachte 50.000 Kilometer in der Luft und hielt Vorträge rund um den Globus. Seine Frau und die beiden Kinder sah er während dieser Zeit kaum. Als seine Präsidentschaft satzungsgemäß nach vier Jahren endete, stimmten die Mitglieder für die „Lex Hollmanni“. Die Satzungsänderung ermöglichte ihm vier weitere Jahre als Präsident. Danach war er 71 Jahre alt. Die meisten hätten sich spätestens jetzt zur Ruhe gesetzt und die Ehrungen und Lobesreden zu  ihren Geburtstagen dankbar entgegengenommen. Doch Hollmann hörte nicht auf. Er lieferte die erste Beschreibung des Glukosestoffwechsels in einzelnen Gehirnabschnitten in Verbindung mit Ergometerarbeit, forschte über den Einfluss von körperlicher Aktivität auf das Gehirn alter Menschen, führte den Begriff „Cerebrologie“ (die Verbindung verschiedener naturwissenschaftlicher und medizinischer Disziplinen, um die Hirnforschung umfassend zu betrachten) ein, was seine Expertise im Bereich der multidisziplinären Gehirnforschung unterstrich, obwohl er kein Neurologe ist – und hielt weiter Vorlesungen. Die jungen Menschen, seine Studierenden, liegen ihm am Herzen. Wenn er vor ihnen spricht, ist der Hörsaal überfüllt und sein Auditorium hängt an seinen Lippen. Hollmann sagt: „Sie brennen vor Interesse, man muss es nur wecken.“ Umgekehrt interessieren ihn auch die Themen der jungen Generation. Er freut sich über ihr Engagement für Klima und Umwelt und hält es für ausgesprochen wichtig. Es liegt nahe, einen alten Mann nach seiner Botschaft an die Jugend zu fragen. Doch Hollmann hat keine Botschaft: „Mir ist alles fremd, was irgendwie lehrerhaft ist. Ich will nicht dozieren, sondern erzählen.“

Dennoch, wer ihn erlebt, mit seinem Charme einer vergangenen Zeit; wer ihn vor sich sieht, diesen adretten Mann mit den fast blinden, aber hellwachen Augen; wer ihm zuhört, wie er aus seinem Leben erzählt als sei es ein Film, so lebhaft und detailgenau, der will wissen: Was ist sein Geheimnis? Wie ist es möglich, 95 zu werden und dabei an Geist und Körper so fit zu bleiben? „Abgesehen von Schicksalsschlägen wie Krebs oder Unfällen, hat es jeder selbst in der Hand“, so Hollmanns Antwort, die eine Mischung aus eigener Erfahrung und Forschungsergebnissen ist. „Man muss den Geist aktiv halten und körperlich in Bewegung bleiben. Damit meine ich nicht Leistungssport.“ Er selber tanzt regelmäßig, noch immer. „Soziale Bindungen sind entscheidend. Einsamkeit ist das Schlimmste.“ Hollmann war immer umgeben von vielen Menschen, doch viele Weggefährt*innen sind gestorben. Er hält kurz inne. „Meine Frau und ich haben uns immer gut verstanden. Ihr Tod vor acht Jahren war mein schwerster Schicksalsschlag.“ Und dann sagt er vielleicht das Entscheidende: „Ich habe gelernt, immer das Positive zu sehen und das Negative auszublenden. Es bringt nichts, sich mit dem zu quälen, was nicht wunschgemäß verläuft.“ Und gibt es noch eine Dimension, die über das Kontrollierbare hinausgeht? „Ich war immer Katholik. Religion hat eine starke Wirkung – wenn man sie lebt und nicht nur kennt.“

Hollmann war nie Mitglied einer politischen Partei. Doch die räumliche Nähe zur damaligen Bundeshauptstadt Bonn brachte fast zwangsläufig eine Nähe zu den Politiker*innen mit sich. So manch herzinfarktgefährdeter Minister begab sich in seine Hände und die CDU wählte ihn in ihren Sportausschuss. Mit Wolfgang Schäuble, heute Präsident des Deutschen Bundestages, verbindet ihn eine lange Freundschaft. Als ein psychisch Kranker 1990 den damaligen Bundesinnenminister lebensgefährlich verletzte, war Hollmann im Krankenhaus an seiner Seite. Er erinnert sich: „Helmut Kohl saß auch bei ihm. Und er hat bitterlich geweint.“ Schäuble ist seitdem vom dritten Brustwirbel abwärts gelähmt. Was für Viele Einträge im Geschichtsbuch sind, ist für Hollmann Teil seines Lebens. Krieg, Wiederaufbau, Teilung, Kalter Krieg und Wiedervereinigung. 2008 erschien die Monografie „Geschichte der deutschen Sportmedizin“, die Hollmann zusammen mit Kurt Tittel herausbrachte. Tittel war der führende Sportmediziner der DDR, sozusagen Hollmanns Pendant im Osten. Ihre Zusammenarbeit über die innerdeutsche Grenze hinweg gilt als beispielhaft für die Aufrechterhaltung der Ost-West-Beziehung in brisanten politischen Zeiten. Ihr gemeinsames Buch erinnert an die wissenschaftlichen Anfänge und an die ersten organisatorischen Gehversuche bis hin zu einer selbständigen medizinischen Fachdisziplin. Deutschland wird international als das „Mutterland der Sportmedizin“ gesehen.

Ende der 1960er Jahre prägte der damals 44-jährige Hollmann den Satz, der vor allem im anglo-amerikanischem Raum zum geflügelten Wort geworden ist: Durch geeignetes Training gelingt es, 20 Jahre lang 40 zu sein. Es liegt eine große Verlockung darin, den Alterungsprozess aus eigener Kraft aufzuhalten und damit den Tod ein Stückchen von sich abzurücken. Hollmann hat beinahe ein Jahrhundert gelebt. Das Ende seines Lebens ist  nah. „Ich musste mich schon so früh mit dem Sterben auseinandersetzen. Der Tod macht mir keine Angst. Mein Lebenswerk ist beendet. Wenn ich jetzt gleich tot umfalle, wäre das ja völlig normal.“ Hemd und Sakko sitzen akkurat, aufmerksam nimmt er alles wahr, was um ihn herum geschieht. Bevor er spricht, denkt er nach, und dann ist jeder Satz druckreif. Er steht auf, flink beinahe, keine Spur von dem Unfall vor sieben Jahren, bei dem er sich Becken und Arm brach. Man fragt sich unwillkürlich, was er als nächstes vorhat. Schließlich gibt er der Nachwelt doch noch einen weisen Rat: „Man sollte sich selber nie überbewerten. Bei allem, was über mich gesagt wird, bin ich am Ende doch immer noch der kleine Wildor.“

Text: Anna Papathanasiou

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