Nr. 1/2023

„Halbprofis gegen Vollprofis“: Welche Rechte haben Sportler*innen?

30 Tage Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Arbeitslosen- und Krankenversicherung, Gewerkschaften und Tarifverhandlungen, manchmal gar Weihnachts- oder Urlaubsgeld – all dies sind soziale Errungenschaften, von denen viele Arbeitnehmer*innen in Deutschland profitieren. Klassische Arbeitnehmer*innen sozusagen, die in einem Anstellungsverhältnis mit dem Arbeitgeber stehen und einen Arbeitsvertrag besitzen. Leistungssportler*innen hingegen haben diese Privilegien häufig nicht, sie gelten oftmals noch nicht einmal als Arbeitnehmer*innen.

Mit den Rahmenbedingungen, unter denen Athlet*innen ihre Leistung erbringen, befassen sich Jürgen Mittag, Maximilian Seltmann und Lorenz Fiege vom Institut für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung (IESF) der Deutschen Sporthochschule Köln. In dem Projekt „EMPLOYS“ haben sie die Anstellungsverhältnisse im europäischen Spitzensport untersucht; nun nehmen sie den sozialen Dialog im Sport und den sozialen Schutz von Athlet*innen in den Blick.

Doch: Was heißt das genau, wenn von Arbeitsbeziehungen im Sport die Rede ist. Ist Sport Arbeit? Ist Leistungssport ein Beruf? Deutlich wird die Thematik anhand eines Zitats der Sprinteuropameisterin und Deutschlands Sportlerin des Jahres 2022 Gina Lückenkemper: „Das kommt davon, wenn man Halbprofis gegen Vollprofis antreten lässt“, schrieb sie auf Instagram nach dem schlechten Abschneiden der deutschen Leichtathlet*innen bei der WM 2022. Und ergänzte gegenüber Sky: „[…] Und wenn man dann mal in Relation setzt, woher unsere Athleten kommen, und was die sonst noch alles tun müssen und wie sie sich den Arsch aufreißen, um gegen die ganzen Vollprofis bestehen zu können, finde ich, man sollte eher vor den Athleten den Hut ziehen, statt nur über sie her zu ziehen.“ Damit sprach Lückenkemper an, was schon seit Jahren im deutschen Spitzensport brodelt: zu wenig Geld, zu wenig Sicherheit, zu viele andere Baustellen neben dem Sport.

Good Governance im Sport

Die Sprinterin zielt mit ihrer Kritik darauf ab, wie der olympische Sport organisiert und reguliert ist – Wissenschaftler*innen bezeichnen dies als Sport Governance und untersuchen dabei seit längerem, was eine gute Governance ausmacht. „Good Governance aus der Perspektive der Athlet*innen bedeutet, dass sie grundlegende Rechte erfüllt brauchen, um eine sichere und zukunftsfähige Karriere im Leistungssport zu ermöglichen“, erklärt Projektmitarbeiter Maximilian Seltmann. Dazu zählen etwa ein ausgehandelter Vertrag, wie er im Profifußball bereits Standard ist, ein Mindesteinkommen, das die Grundbedürfnisse der Sportler*innen abdeckt, das Recht auf Selbstvermarktung über Sponsoren, ein gesetzlich festgelegter Gesundheitsschutz oder auch Mitsprachemöglichkeiten innerhalb der Verbände. Im Rahmen von EMPLOYS analysierte das Projektteam die Arbeitsbeziehungen von Athlet*innen aus olympischen Sportarten ohne Profiligen. Sportarten, die wie Fußball und Basketball in Profiligen organisiert sind, oder von Sponsoren getragene Sportarten wie Tennis oder Golf ließen die Wissenschaftler*innen dabei außen vor. Dieser klassische Profisport ist Kern eines anderen Forschungsprojekts (siehe SDE Pro Sports). „Wir haben die aktuelle Praxis in 29 europäischen Ländern bewertet und daraus praktische Handlungs- und Politikempfehlungen abgeleitet, die die berufliche und soziale Situation der Athlet*innen kurz-, mittel- und langfristig verbessern könnten“, erklärt Seltmann.

27 Prinzipien für gute Praxis

Die Forscher*innen analysierten unter anderem, wo Sportler*innen rechtlich als Arbeitnehmer*innen gelten, ob sie Pensionsansprüche haben oder wie es mit Versicherungen und Mitspracherecht aussieht. Dabei stellten sie 27 Prinzipien heraus, was Athlet*innen aus ihrer Perspektive – bezogen auf ihre Arbeitssituation im Sport – als „gut“ bezeichnen würden. Unter Beteiligung aller Projektpartner wurden diese Prinzipien diskutiert und überarbeitet, um dann abzugleichen, inwiefern die 29 Länder diese Prinzipien erfüllen. „Unsere Untersuchungen zeichnen ein sehr ambivalentes Bild von den Arbeitsbeziehungen im olympischen Sport in den EU-Ländern“, fasst Projektleiter Univ.-Prof. Dr. Jürgen Mittag, Leiter des IESF, zusammen und ergänzt: „Wir sehen einerseits hochprofessionelle Strukturen und Athlet*innen, die sich als Stars voll und ganz auf ihren Sport konzentrieren können. Auf der anderen Seite gibt es zum Teil schwierige bis prekäre wirtschaftliche und soziale Verhältnisse.“ Von einem europäischen Sportmodell seien die Länder weit entfernt, jedes EU-Land habe andere nationale Regelungen, wenn es um die Arbeitsbeziehungen von olympischen Athlet*innen geht. Ein wesentliches Grundproblem sei aber, dass Athlet*innen häufig nicht als Arbeitnehmer*innen wahrgenommen würden, ihnen Arbeitsverträge und die damit verbundenen Rechte fehlten.

Von der Vertragssituation bis zum Rentenplan

Im EMPLOYS-Abschlussbericht lassen sich konkrete Studienergebnisse nachlesen, aber auch allgemeine Forderungen an Regierungen, Nationale Olympische Komitees, Sportverbände, staatliche Institutionen, Spitzensportorganisationen und weitere europäische und internationale Organisationen. So empfehlen die Wissenschaftler*innen zum Beispiel, schriftliche Verträge für alle Spitzensportler*innen verbindlich zu machen und ihnen ein Einkommensniveau zu garantieren, das mindestens dem Niveau des nationalen Mindestlohns entspricht oder damit gleichzusetzen ist. Die geltenden Vorschriften zu Sponsoring, Vermarktung und Nebenverdienst sollten geprüft werden, ob sie rechtsverbindlich und angemessen sind. Bezogen auf Sicherheit und Gesundheit empfehlen die Forscher*innen unter anderem, dass sich die Arbeitszeiten und Urlaubsregelungen bei olympischen Spitzensportler*innen an den entsprechenden EU-Richtlinien orientieren und sportartspezifische Sicherheits- und Gesundheitsstandards in die nationalen Gesetze aufgenommen werden sollten. Zudem sollten für Spitzensportler*innen bestimmte soziale Absicherungen gelten, zum Beispiel spezifische Unfall- und Verletzungsversicherungen, Ruhestandsregelungen und Rentenpläne oder Bestimmungen zu Schwangerschaft und Elternzeit*. Darüber hinaus schlagen die Forscher*innen vor, den sozialen Dialog im Spitzensport stärker zu fördern, indem Athlet*innen an Prozessen und Entscheidungen beteiligt werden oder Gewerkschaften bilden können.

Nationale Unterschiede, universelle Athlet*innenrechte

Trotz aller nationalen Unterschiede möchte EMPLOYS eine Reihe universeller Athlet*innenrechte festlegen, die gleichwertig für alle Spitzensportler*innen im olympischen Sport gelten sollen. „Elitesportler*innen in olympischen Sportarten befinden sich in einem komplexen Beziehungsgeflecht, das durch ein hohes Maß an Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Die Sportler*innen erbringen ihre Leistungen in einem Umfeld der Unterordnung, sorgen aber mit ihren Leistungen für wirtschaftlichen Gewinn. Gleichzeitig fehlt ihnen in vielen Fällen der Status als Arbeitnehmer*innen“, fasst Projektleiter Jürgen Mittag zusammen. Die Beschäftigungssituation und die sozialen Beziehungen der Sportler*innen könnten prekär sein, Athlet*innenvereinbarungen würden aufgrund von Machtungleichheit oft nicht freiwillig geschlossen, allein mit der Ausübung ihres Sports hätten viele Spitzensportler*innen in olympischen Sportarten ein unzureichendes Einkommen. Die Forscher*innen kommen zu dem Schluss, dass Verträge, sozialer Dialog und Kollektivverhandlungen, also das gemeinsame Aushandeln von Rechten und Pflichten, wichtige Instrumente der Good Governance in den Arbeitsbeziehungen von Sportler*innen seien.

Wie kann sozialer Schutz für Athlet*innen aussehen?

Einige der EMPLOYS-Ergebnisse fanden die Forscher*innen so spannend und relevant, dass sie dazu ein Folgeprojekt angestoßen haben, welches sich mit dem sozialen Schutz von olympischen Athlet*innen befasst. Denn: Immer wieder verunglücken Sportler*innen bei Wettkämpfen oder im Training. Seit einem Sturz im Training im Juni 2018 beispielsweise ist die deutsche Bahnradfahrerin Kristina Vogel querschnittgelähmt und sitzt im Rollstuhl. Durch solche Unfälle rückt der soziale Schutz von Athlet*innen häufig nur punktuell ins Licht der Öffentlichkeit. Neben Gerichtsverfahren und Versicherungsfragen zählen dazu aber auch Themen wie Rentenzahlungen, Gesundheitsvorsorge oder Mutterschutz – Punkte also, die bei den meisten „klassischen“ Arbeitnehmer*innen klar vom Staat geregelt sind; häufig ist das bei Sportler*innen nicht so.

„In den Ergebnissen unseres EMPLOYS-Projekts sehen wir, dass der Sozialschutz von Athlet*innen in olympischen Sportarten ein sehr privates Element ist: Entweder kümmern sich die Sportler*innen selbst um ihre Gesundheits- und Altersvorsorge oder die Sportverbände schließen entsprechende Versicherungen für die Sportler*innen ab. Diese Maßnahmen können die staatliche Unterstützung zwar ergänzen, aber nicht ersetzen“, nennt Projektmitarbeiter Seltmann eine These, die dem Projekt zugrunde liegt. Unter dem Titel „Assessing, Evaluating and Implementing Athletes' Social Protection in Olympic Sports“ – Beurteilung, Bewertung und Umsetzung des Sozialschutzes von Athlet*innen im olympischen Sport; genannt SOPROS – möchte das IESF den Aspekt des Sozialschutzes stärker vertiefen. Über ein Selbstbewertungstool sollen die Athlet*innen Auskunft über ihre Situation und ihren subjektiv empfundenen Sozialschutz geben. Das soll aber nicht nur dazu dienen, die Datenbasis zu erweitern, sondern: „Wir möchten das Projekt selbst als Pilot nutzen, indem wir Workshops und Verhandlungen zwischen den Projektpartnern durchführen und so sozialen Dialog im Sport direkt testen“, beschreibt Projektkoordinator Seltmann die Methodik.

Sozialer Dialog im Sport: Wer verhandelt mit wem worüber?

„Sozialer Dialog ist ein Verhandlungsprozess, bei dem Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen ihre Zusammenarbeit regeln und konkrete Vereinbarungen über arbeits- und beschäftigungsbezogene Fragen festlegen. Es findet kontinuierlich und regelmäßig ein wechselseitiger Austausch statt, bei dem keine der Parteien eine einseitige Entscheidungsbefugnis besitzt“, erklärt Seltmann. Wie solche Tarifverträge und Vereinbarungen die Zusammenarbeit zwischen Athlet*innen und Arbeitgeber*innen regeln, das will ein drittes Projekt von Jürgen Mittag und seinem Team untersuchen: Es nimmt den sozialen Dialog in den professionellen Teamsportarten in den Blick. Unter dem Titel „Social Dialogue in Europe for Professional Sports“, kurz SDE Pro Sports, analysieren die Forscher die Tarifverträge im Profisport, aber auch Vereinbarungen wie Mindeststandards, Aktionspläne, Standardverträge, Empfehlungen. „Letztlich verfolgen wir mit diesem Projekt das Ziel, jene Akteure zu unterstützen, die keine Tarifverträge haben“, schildert Projektmitarbeiter Lorenz Fiege den Projektansatz. „Wir unterstützen die Praxispartner dabei, einen Leitfaden zu erstellen, der bewährte Verfahren und relevante Informationen zusammenfasst und den nationalen und europäischen Sozialpartnern im Sport, zum Beispiel den Profisportler*innen und Arbeitgeber*innen, helfen soll, den sozialen Dialog zu stärken.“

Text: Julia Neuburg

Detaillierte Projektinfos

EMPLOYS - Understanding, Evaluating, and Improving Good Governance

Institut für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung

  • Univ.-Prof. Dr. Jürgen Mittag (Projektleiter)
  • Maximilian Seltmann (Projektkoordinator)
  • Lorenz Fiege (Projektmitarbeiter)

Projektwebseite

Projektförderung
European Commission Erasmus+ Sport

Projektpartner

Abschlussbericht

Den umfangreichen Abschlussprojekt mit allen Ergebnissen und Empfehlungen können Sie hier herunterladen: https://repository.pravri.uniri.hr/islandora/object/pravri:3107/datastream/FILE0/download

Social Dialogue in Europe for Professional Sports (SDE Pro Sports)

Institut für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung

  • Univ.-Prof. Dr. Jürgen Mittag (Projektleiter)
  • Maximilian Seltmann (Projektmitarbeiter)
  • Lorenz Fiege (Projektmitarbeiter)

Projektwebseite

Projektförderung

European Social Fund+ (ESF)

Projektpartner

SOPROS: Assessing, Evaluating and Implementing Athletes‘ Social...

SOPROS: Assessing, Evaluating and Implementing Athletes‘ Social Protection in Olympic Sports

Institut für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung

  • Univ.-Prof. Dr. Jürgen Mittag (Projektleiter)
  • Maximilian Seltmann (Projektkoordinator)
  • Lorenz Fiege (Projektmitarbeiter)

Projektwebseite

Projektförderung

ERASMUS-SPORT-2022

Projektpartner

Kontakte

Univ.-Prof. Dr. Jürgen Mittag
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Jürgen Mittag

Projektleitung

Telefon +49 221 4982-2690
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Projektmitarbeiter

Telefon +49 221 4982-4870
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