Nr. 2/2022

Sexualisierte Gewalt im Sport – Von Nähe und Distanz

Es sind vor allem die bekannten Namen, die Wellen schlagen. Wie der des englischen Ex-Fußballnationalspielers Paul Stewart, der von seinem Jugendtrainer sexuell missbraucht wurde. Eine Befragung zu sexualisierter Gewalt im Leistungssport in Deutschland (»Safe Sport«) ergab, dass ein Drittel der befragten Kaderathlet*innen im Laufe ihrer Karriere mindestens einmal eine Form von sexualisierter Belästigung oder Gewalt erfahren hat. Wie viel Nähe ist angemessen? Wann wird aus „normaler“ Hilfestellung eine übergriffige Handlung? Mit dieser Fragestellung setzt sich das Projekt »TraiNah« auseinander und stellt die Trainer*innen als zentrale Akteur*innen in der Prävention von sexualisierter Gewalt in den Vordergrund.

Rund 27 Millionen Mitgliedschaften verzeichnet der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB). Davon sind sieben Millionen Kinder und Jugendliche. Eine Umfrage des Forschungsprojektes »Safe Sport« unter 1.799 Kaderathlet*innen ab 16 Jahren ergab, dass ein Drittel der Befragten eine Erfahrung mit sexualisierter Belästigung und Gewalt im Leistungssport gemacht hat. Im Vereins- und Breitensport sind die Befunde ähnlich problematisch. Von 4.400 befragten Vereinsmitgliedern gaben ein Viertel an, im Verein mindestens einmal eine Form von sexualisierten Grenzverletzungen und Belästigung (ohne Körperkontakt) erfahren zu haben; ein Fünftel sexualisierte Gewalt und Übergriffe mit Körperkontakt.

Dass das Thema sexualisierte Gewalt im Sport den Weg in die Öffentlichkeit geschafft hat und immer mehr Menschen ermutigt, über ihre eigenen Erfahrungen zu reden, ist ein wichtiger Schritt. Doch welche Maßnahmen müssen getroffen werden, damit es erst gar nicht so weit kommt und wo verläuft die Grenze zwischen zu viel und angemessener Nähe? Anknüpfend an die Ergebnisse der »Safe Sport«-Studie wurde das Projekt »TraiNah« initiiert, gefördert durch das Bundesinstitut für Sportwissenschaft. »TraiNah« (Trainer*innen als zentrale Akteur*innen in der Prävention sexualisierter Gewalt: Umgang mit Nähe und Distanz im Verbundsystem Nachwuchsleistungssport) ist ein interdisziplinäres Verbundprojekt in Zusammenarbeit mit der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm. Projektleiterinnen an der Deutschen Sporthochschule Köln sind die Professorinnen Bettina Rulofs und Ilse Hartmann-Tews vom Institut für Soziologie und Genderforschung. Dr. Jeannine Ohlert, die zum Zeitpunkt des Projektes sowohl Mitarbeiterin am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule als auch am Universitätsklinikum Ulm war, ist gemeinsam mit PD Dr. Marc Allroggen für die Teilprojekte in Ulm verantwortlich.

„Viele Trainer*innen sind verunsichert“

„Viele Trainerinnen und Trainer im Nachwuchsleistungssport sind durch die aktuellen Fälle und Diskussionen um sexuelle Belästigungen und Übergriffe im Sport verunsichert“, sagt Prof. Dr. Bettina Rulofs. „Konkrete Fragen sind: Wie viel Nähe zu meinen Athlet*innen ist angemessen und erlaubt? Wie kann ich heranwachsende Athlet*innen stärken und ihre Unversehrtheit sichern? Wie kann ich selbst achtsam mit Grenzen umgehen?“, erläutert die Wissenschaftlerin.  Während die meisten bisherigen Präventionsstrategien entweder auf Ebene der Gesamtorganisation oder auf Athlet*innen-Ebene ansetzen, rückt TraiNah die sozialen Beziehungen in den Fokus. „Unser Ziel war es, den Umgang mit Nähe und Distanz im Nachwuchsleistungssport sowohl aus Perspektive der Trainer*innen als auch der Athlet*innen zu untersuchen und dabei Risiken für die Entstehung von sexualisierter Gewalt sowie Schutzfaktoren zu ermitteln“, erklärt Prof. Dr. Ilse Hartmann-Tews. Aufbauend auf den Ergebnissen wurde ein Schulungskonzept entwickelt, das die Handlungskompetenzen von Trainer*innen zum gelungenen Umgang mit Nähe und Distanz stärkt und so den Kinderschutz im Verbundsystem des Nachwuchsleistungssports fördert. „Im Mittelpunkt stand hierbei die Sensibilisierung der Trainer*innen bezüglich ihrer zentralen Verantwortung für gelungene soziale Beziehungen im Leistungssport“, erläutert die Sportsoziologin.

Machtungleichgewicht zwischen Trainer*innen und Athlet*innen

Das gesamte Projekt wurde in Kooperation mit vier olympischen Spitzenverbänden aus unterschiedlichen Sportarten durchgeführt. Der Deutsche Schwimmverband (DSV), der Deutsche Basketballbund (DBB), der Deutsche Turnerbund (DTB) sowie die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) nahmen sowohl mit ihrem Trainer*innenstab im Nachwuchsleistungssportbereich als auch mit Athlet*innen am Projekt teil. Weiterhin unterstützten die Trainerakademie Köln des DOSB, der Bundesverband der Trainerinnen und Trainer im deutschen Sport (BVTDS), die Deutsche Sportjugend im Deutschen Olympischen Sportbund (dsj) sowie die Vereinigung Athleten Deutschland. Insgesamt wurden 37 problemzentrierte und leitfadengestützte Einzelinterviews mit Trainer*innen (n=19) und Athlet*innen (n=18) durchgeführt und anschließend inhaltsanalytisch ausgewertet. Des Weiteren wurde eine quantitative Online-Befragung durchgeführt, an der 830 Athlet*innen und 927 Trainer*innen teilnahmen.

„Die Entstehungsbedingungen von sexualisierter Gewalt im Leistungssport sind komplex. Faktoren auf Ebene der Täter*innen, der Betroffenen und nicht zuletzt auf struktureller Ebene spielen eine Rolle. Die Beziehung von Trainer*in und Athlet*in nimmt hierbei eine zentrale Stellung ein“, fasst Rulofs ein Kernergebnis des Projektes zusammen. Insgesamt vier entscheidende strukturelle Elemente in der Beziehung zwischen Trainer*innen und Athlet*innen haben die Wissenschaftlerinnen herausgearbeitet: die Rollenkomplexität, emotionale Nähe und Vertrauen, körperliche Nähe und das Machtungleichgewicht. Hartmann-Tews erklärt: „Von den Trainer*innen wird erwartet, dass sie nicht nur Expert*innen für den Sport sind, sondern auch bei der Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen unterstützen. Hierzu ist emotionale Nähe und Vertrauen notwendig.“ Körperliche Nähe gehöre grundsätzlich für beide Seiten zum Sport, rufe bei Athlet*innen jedoch auch unbehagliche Gefühle sowie Probleme in der Abgrenzung hervor. „Zwischen Trainer*innen und Athlet*innen besteht ein Machtungleichgewicht überwiegend zu Gunsten der Trainer*innen. Sie entscheiden über die Mitgliedschaft im Kader, die Gestaltung des Trainings und die Teilnahme an Wettkämpfen und die Athlet*innen sowie ihr soziales Umfeld müssen sich unterordnen“, erläutert die Sportsoziologin. Diese Elemente in der Trainer*innen-Athlet*innen-Beziehung eröffnen grundsätzlich Möglichkeiten für die Ausübung und Verdeckung von sexualisierter Gewalt, so die Wissenschaftlerinnen. Die entscheidende Frage sei nun, wie es gelingen kann, einen reflektierten Umgang mit diesen strukturellen Risiken zu entwickeln, um Sporttreibende vor Gewalt zu schützen. „Die Ergebnisse unserer Interviews legen nahe, dass sich Athlet*innen mehr Mit- und Selbstbestimmung beim Training wünschen“, sagt Bettina Rulofs.

Workshop-Konzept: autonomieunterstützendes Klima etablieren

Dass ein Empowerment förderndes Klima in der Trainingsgruppe konstruktiv für den Schutz vor Gewalt ist, bestätigen auch die Ergebnisse des Teams aus Ulm aus sportpsychologischer Perspektive. „Unsere quantitativen Befragungsdaten zeigen, dass ein Empowerment-förderndes Klima in der Trainingsgruppe mit weniger Gewalterfahrungen verbunden ist, während ein  Empowerment-schwächendes Klima einen Zusammenhang mit vermehrten Gewalterfahrungen zeigt“, fasst Dr. Jeannine Ohlert die Befunde zusammen. Basierend auf diesen Erkenntnissen wurde ein Workshop-Konzept entwickelt, das Trainer*innen dabei unterstützt, ein bestärkendes und autonomieunterstützendes Klima zu etablieren. Dabei wurde auf die Formel „VOICE“, „CHOICE“ und „EXIT“ gesetzt und den Trainer*innen vermittelt, wie Athlet*innen Gelegenheiten erhalten, ihre Stimme zu erheben (VOICE), wie sie Wahlmöglichkeiten bekommen und mitbestimmen können (CHOICE) und wie ihnen der Ausstieg aus der Situation, Gruppe oder Verein ermöglicht werden kann (EXIT). „Unser Ziel ist es, ein Bewusstsein für die Problematik zu schaffen und den Trainer*innen gleichzeitig eine praxisnahe Formel an die Hand zu geben, die sie im Alltag auf die Trainingssituation anwenden können. Dabei gilt das Prinzip, dass die Stärkung der Athlet*innen zugleich den Schutz der Trainer*innen vor unbegründetem Verdacht unterstützt“, erläutert Rulofs. Die Evaluation der Workshops zeigt, dass sich die Trainer*innen durch die Teilnahme am Workshop in ihrer Handlungssicherheit beim Umgang mit Nähe und Distanz verbessern konnten. Das Workshop-Konzept müsse jetzt noch im System des Nachwuchsleistungssports etabliert werden, um weitere Trainer*innen damit zu schulen, so der Ausblick der Wissenschaftlerinnen.

Text: Lena Overbeck

Hintergrundinfos

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt »Safe Sport«, durchgeführt vom Institut für Soziologie und Genderforschung der Deutschen Sporthochschule Köln in Kooperation mit der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm, konnte in Deutschland erstmals Erkenntnisse zu Formen und Häufigkeit von sexualisierter Gewalt und zum Umsetzungsstand von Schutzmaßnahmen im organisierten Sport vorlegen. Die jüngst mit Mitteln des Landessportbundes Nordrhein-Westfalen durchgeführte Studie »SicherImSport« hat entsprechende Daten im Freizeit-, Breiten- und Wettkampfsport erhoben. Die Ergebnisse der Studien stellen den organisierten Sport vor die Herausforderung, Maßnahmen zur Prävention zu entwickeln – hier setzt das Projekt »TraiNah« an und fokussiert die Beziehungen zwischen Trainer*innen und Athlet*innen. Der im Rahmen des Projektes konzipierte Workshop wird den Sportverbänden nun zum Einsatz in der Fort- und Weiterbildung von Trainer*innen zur Verfügung gestellt. Die Deutsche Sporthochschule Köln startete zudem jüngst das Projekt »Safe Clubs«, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung als Nachfolge-Projekt von »Safe Sport« für drei Jahre gefördert wird. In dem Projekt setzen die Deutsche Sporthochschule Köln mit den Projektleitungen Dr. Jeannine Ohlert und Prof. Dr. Bettina Rulofs ihre bewährte Zusammenarbeit mit PD Dr. Marc Allroggen am Universitätsklinikum Ulm fort und entwickeln Transferkonzepte für den Kinderschutz in Sportvereinen.

 

Podcast

#15 Eine Runde mit... Professorin Bettina Rulofs

Noch mehr Infos zu dem Thema Missbrauch und sexuelle Gewalt im Sport hören Sie im aktuellen Podcast mit Prof.'in Bettina Rulofs. In Folge 15 von „Eine Runde mit..." spricht die Sportsoziologin über Gründe, Ausmaß und den Weg zur Aufarbeitung und Prävention von sexualisierter Gewalt. Zum Podcast

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