Nr. 6/2022
Muskelkraft als Medizin
Eine wissenschaftliche Übersichtsarbeit zeigt, wie Herzpatient*innen von gezieltem Krafttraining profitieren können und welches Training sich für den Herzsport eignet.
In Deutschland werden jährlich 1,7 Millionen Menschen wegen einer Erkrankung des Herzens in der Klinik behandelt. Diese Zahl gibt die Deutsche Herzstiftung an. Die Betroffenen werden zudem immer älter und die Anzahl der Herzoperationen bei über 70-Jährigen nimmt zu. Wer regelmäßig körperlich aktiv ist und sich mit Ausdauer- und Krafttraining belastet, lebt auch mit einer Herzerkrankung länger. Eine gut ausgebildete Muskelmasse und Muskelkraft haben einen positiven Einfluss. Bei Herzpatient*innen ist diese allerdings oft krankheitsbedingt oder auch wegen langer Phasen ohne körperliche Aktivität unterdurchschnittlich ausgeprägt.
Um herauszufinden, welche Effekte Krafttraining bei Herzpatient*innen hat und inwiefern es sich auch für ältere Menschen in der kardiologischen Rehabilitation eignet, haben Wissenschaftler*innen des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin der Deutschen Sporthochschule Köln die seit 2010 veröffentlichten Studien zum Krafttraining bei Herzpatient*innen analysiert und deren Ergebnisse zusammengefasst. Ihr Fazit: Krafttraining ist gerade für ältere Herzpatient*innen sinnvoll; es ist sicher und effektiv, aber es gibt auch Wissenslücken.
Wissenschaftler*innen am Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin der Deutschen Sporthochschule Köln forschen seit mehr als 40 Jahren zur körperlichen Aktivität und zum Training von Herzpatient*innen. Denn, dass auch dieses Patient*innenkollektiv Bewegung braucht, wissen die Expert*innen dort schon lange. Bereits seit den 1970er Jahren gibt es spezielle „Herzgruppen“, in denen Herzkranke sportwissenschaftlich angeleitet und medizinisch überwacht trainieren. „Vieles, was damals entwickelt und empfohlen wurde, bildet immer noch die Basis für die heutigen Trainingsempfehlungen“, sagt Prof.in Birna Bjarnason-Wehrens. „Erst vor ungefähr 20 Jahren wurden erste vorsichtige Empfehlungen zum Krafttraining mit Herzpatienten formuliert. Der Grund: Man hatte befürchtet, das Krafttraining würde den Blutdruck gefährlich in die Höhe schießen lassen oder das vorerkrankte Herz anderweitig gefährden. Heute weiß man, dass Krafttraining nicht schadet, sondern sogar positive Effekte haben kann.“
Prof.in Birna Bjarnason-Wehrens ist eine der Wissenschaftler*innen an der Sporthochschule, die fast von Beginn an miterlebt haben, wie sich die kardiologische Rehabilitation, die auf körperlichem Training basiert, entwickelt hat. Denn schon während ihres Sportstudiums entdeckte sie ihre Leidenschaft für den „Sport“ mit Herzpatient*innen und die Reha nach einer Herzbehandlung. „Schon damals habe ich mir alles angehört, was es aus dem Bereich der Sportmedizin und Physiologie zu hören gab“, erinnert sich die Professorin zurück. Bjarnason-Wehrens war dabei, als anfangs vor allem Ausdauersport für Herzkranke populär wurde; sie erlebte mit, wie sich auch die Empfehlungen hierzu veränderten und sie weiß, wie lange es dauert, bis wissenschaftliche Erkenntnisse in den Arztpraxen oder Reha-Kliniken ankommen. „Heute haben wir es in der kardiologischen Rehabilitation häufiger mit alten und oft auch gebrechlichen Patienten zu tun, die Vieles verlernt haben, und oft krankheitsbedingt und durch lange Phasen körperlicher Inaktivität an Muskelmasse und Muskelkraft, aber auch Koordinationsfähigkeit verloren haben. Viele dieser Patienten waren über einen langen Zeitraum körperlich inaktiv und haben keinen Sport mehr gemacht“, erklärt die Wissenschaftlerin. In der Reha müssten diese Menschen erst wieder lernen, aktiv zu sein und behutsam an körperliche Belastung herangeführt werden. Hinzu komme Unsicherheit und ggf. auch Angst vor der körperlichen Belastung. „Während der Rehabilitation müssen sie lernen, was sie sich im Alltag und bei körperlicher Aktivität zumuten können. Hierbei haben wir die Erfahrung gemacht, dass gerade ältere, gebrechliche Patienten am Anfang leichtes dynamisches Krafttraining besser tolerieren als Ausdauertraining. Viele sind gar nicht in der Lage, ein vernünftiges Ausdauertraining durchzuführen“, sagt Bjarnason-Wehrens.
Um herauszufinden, wie Krafttraining gerade bei älteren und gebrechlichen Herzpatient*innen wirkt, wie es konkret umgesetzt werden kann und ob es sicher ist, hat sich Bjarnason-Wehrens mit mehreren Fachkolleg*innen zusammengetan und für das angesehene amerikanische „Journal of Cardiolulmonary Rehabilitation and Prevention“ eine systematische Übersichtsarbeit – ein sogenanntes Review – angefertigt. Das Ziel dieser Übersichtsarbeit war es, auf Grundlage der bereits bestehenden Literatur, Wissen zusammenzutragen und gleichzeitig herauszuarbeiten, wo weiterer Forschungsbedarf besteht. Die Autor*innen analysierten dafür die Daten der seit 2010 veröffentlichten Metaanalysen und Studien zum Krafttraining bei Herzpatient*innen (d.h. Patient*innen mit koronarer Herzkrankheit, Herzinsuffizienz und Herzklappenerkrankungen*) und fassten deren Ergebnisse zusammen. Dabei lag ein besonderes Augenmerk auf dem Krafttraining bei älteren und/oder gebrechlichen Patient*innen.
Bereits mit Erreichen des 30. Lebensjahres beginnt der altersbedingte Muskelabbau im menschlichen Organismus. Ohne zusätzliches Training baut der Körper ab diesem Zeitpunkt jedes Jahr bis zu ein Prozent seiner Muskeln ab und wandelt sie in Fettgewebe um. Bei Menschen über 70 liegt dieser Prozentsatz bei drei Prozent Muskelmasse pro Jahr. Auch bestimmte Krankheitsprozesse können im höheren Alter Muskelmasse und -kraft zusätzlich reduzieren. „Unsere Ergebnisse machen deutlich, dass bei Herzpatienten häufig eine reduzierte Muskelkraft und Muskelmasse sowie körperliche Einschränkungen bis hin zur Gebrechlichkeit vorliegen. Diese können krankheitsbedingt sein, aber auch aufgrund von Bewegungsmangel entstehen. Unsere Ergebnisse zeigen auch, wie effektiv Krafttraining dem entgegenwirken kann“, schlussfolgert Bjarnason-Wehrens. Ein angemessenes Krafttraining sei in dieser Gruppe also besonders wichtig, betont die Forscherin. Es sei „die beste Methode, um Muskelmasse und -kraft zu steigern, selbst bei sehr alten Menschen“. Krafttraining könne altersbedingte Veränderungen der Muskelfunktion abmildern und Aktivitäten des täglichen Lebens wie Gehausdauer, Gehgeschwindigkeit und Treppensteigen verbessern. Eine Kombination aus Kraft- und Gleichgewichtstraining verbessere die Stabilität und die Gehfähigkeit, erhöhe die Bewegungssicherheit und spiele somit eine wichtige Rolle bei der Sturzprävention.
In mehreren Studien, die in das Review eingeflossen sind, untersuchten die Forschenden, wie es um die Muskelkraft von Patient*innen mit Koronarer Herzkrankheit bestellt ist. Dafür ermittelten sie deren isometrische Quadrizeps-Kraft, also die Kraft, die beim Anspannen des vorderen Oberschenkelmuskels entfaltet werden kann. Die Daten zeigen: Ein hohes Maß an isometrischer Kraft des Quadrizeps verringert die Gesamtmortalitätsrate um 23 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, an den Folgen seiner Herzerkrankung zu versterben, ist um 34 Prozent geringer.
Bis zu 50 Prozent der Herzinsuffizienz-Patient*innen litten unter Sarkopenie (Muskelschwund im Alter) mit reduzierter Muskelmasse und Muskelkraft. Bis zu 15 Prozent der Untersuchten entwickelten Kachexie, eine Stoffwechselveränderung, die den Muskelabbau zusätzlich beschleunigt und die Knochendichte verringert. Bei ihnen war die Muskelkraft häufig schon so stark zurückgegangen, dass es vermehrt zu Stürzen und Knochenbrüchen gekommen war. Rund die Hälfte der Menschen mit Herzinsuffizienz war gebrechlich. Die Gebrechlichkeitsrate unter den Herzklappenerkrankten variierte je nach Studie zwischen sechs und 90 Prozent.
Das Krafttraining, das in den untersuchten Studien mit den verschiedenen Patient*innengruppen durchgeführt wurde, zeigt durchweg positive Auswirkungen: Die Leistungsfähigkeit der Patient*innen steigt, die Muskelkraft und die Körperzusammensetzung wird verbessert und die Mobilität wächst. „Krafttraining hat ganz deutlich einen Effekt. Nicht nur auf die Muskelkraft, sondern auch auf die Lebensqualität. Die Patienten kommen im Alltag besser klar und sind mobiler“, folgert Bjarnason-Wehrens. Die Art und Intensität des Krafttrainings waren dabei sekundär. Größere Effekte erzielten nur diejenigen, die häufiger und über einen längeren Zeitraum trainierten. Die Effekte des Trainings hielten langfristig an. Bei Patient*innen mit Herzinsuffizienz hatte das Krafttraining keinen negativen Einfluss auf die Pumpleistung des Herzens. „Die Befürchtung, dass ein Krafttraining die Herzfunktion negativ beeinflusst, wurde nicht bestätigt. In einer Metaanalyse wurde sogar eine leichte Verbesserung der Pumpleistung des Herzens durch Krafttraining beobachtet“, skizziert Bjarnason-Wehrens konkrete Ergebnisse. Und was die Forscherin besonders herausstellt: In allen Krafttrainingsstudien, die das Review umfasst, gab es beim Training keine schwerwiegenden Komplikationen.
In der Praxis seien diese vielen positiven Faktoren des Krafttrainings und die Tatsache, dass das Training auch für schwerer Erkrankte sicher ist, allerdings noch nicht überall angekommen, sagt die Autorin. „Krafttraining wird inzwischen für Herzpatienten empfohlen und auch häufig in der Reha angeboten, aber der Fokus liegt immer noch auf dem aeroben Ausdauertraining. Eigentlich müsste das Krafttraining den gleichen Stellenwert haben.“
Wer selbst betroffen ist und körperlich aktiver werden möchte, dem empfiehlt Bjarnason-Wehrens, sich einer Herzsportgruppe (siehe Info-Kasten unten) anzuschließen. Sportwissenschaftlich angeleitet und unter Beobachtung von Mediziner*innen könne man sich hier langsam an die Belastung herantasten. Zudem bekomme man Feedback, wie die Übungen richtig ausgeführt werden. Wer lieber individuell trainiert, kann mit leichtem Ausdauersport beginnen. Spazierengehen eigne sich gut für den Einstieg. „Wichtig ist, sich dabei gut selbst zu beobachten und die Herzfrequenz und die Atmung im Blick zu behalten. Exzellent wäre, wenn man sich an einer Herzfrequenz-Grenze orientieren könnte, die der Kardiologe vorgibt“, empfiehlt Bjarnason-Wehrens. „Bei der Atmung kann man während der Belastung darauf achten, nicht zu sehr aus der Puste zu kommen: laufen, ohne zu schnaufen. Man sollte sich noch gut unterhalten können“, nennt die Wissenschaftlerin praktische Tipps. Zudem empfiehlt sie Herzpatient*innen ein Krafttraining unter Anleitung einer Fachkraft. Für das Krafttraining an Geräten lauten die aktuellen Empfehlungen für Einsteiger*innen: zwei bis drei Mal pro Woche bei niedriger Intensität trainieren, pro Übung zehn bis 15 Wiederholungen, pro Muskelgruppe ein bis drei Sätze. Wer schon Erfahrung gesammelt hat und leistungsfähig ist, kann mit höheren Intensitäten trainieren. „Wichtig ist beim Krafttraining: Besonders auf die Atmung achten, Pressatmung vermeiden und die Luft nicht anhalten, sonst schießt der Blutdruck in die Höhe“, sagt Bjarnason-Wehrens.
Text: Marilena Werth
Im Review haben sich die Wissenschaftler*innen auf die drei Herzerkrankungen fokussiert, die weltweit am häufigsten auftreten: die Koronare Herzkrankheit (KHK), Herzklappenerkrankungen und Herzinsuffizienz. Bei Menschen mit KHK sind die großen Arterien am Herzen, die den Herzmuskel mit Sauerstoff versorgen, verengt. Das führt dazu, dass das Herz selbst nicht ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden kann und die Funktion des Herzens dadurch eingeschränkt wird. Zu dieser Gruppe zählen unter anderem Patient*innen nach Herzinfarkt, Bypassoperation oder auch nach Ballondilatation der Herzkranzgefäße.
Bei Herzklappenerkrankungen ist die Leistung des Herzens reduziert, zum Beispiel, weil eine verformte Herzklappe verengt ist und/oder nicht optimal schließt. Dadurch muss das Herz eine Mehrarbeit aufnehmen, um den Körper zu versorgen. Nach Reparatur und/oder Austausch der erkrankten Herzklappe erhöht sich die Leistungsfähigkeit der Patient*innen allmählich deutlich.
Eine Herzinsuffizienz beschreibt eine Störung der Pumpfunktion des Herzens. Das Herz ist nicht mehr in der Lage, die Gewebe mit genügend Blut und damit genügend Sauerstoff zu versorgen, um den Stoffwechsel des Körpers in Ruhe oder unter Belastung sicherzustellen. Dies führt frühzeitig zur Ermüdung und Luftnot unter Belastung. Jede kardiologische Erkrankung, die lange genug besteht und schwer genug ist, kann in einer Herzinsuffizienz münden.