Nr. 3/2020
Chemobrain in Movement – Bewegungstherapie in der Kinderonkologie
Dr. Anna-Maria Platschek untersucht in einem aktuellen Forschungsprojekt, wie sich körperliche Aktivität auf das Befinden von Krebspatient*innen im Kindes- und Jugendalter auswirkt. Im Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses steht dabei die Cancer-related Fatigue (CRF), ein belastendes und andauerndes subjektives Empfinden körperlicher, emotionaler und kognitiver Erschöpfung (Fatigue) in Verbindung mit einer Krebserkrankung und deren Behandlung.
Im bewegungsneurowissenschaftlichen Forschungsansatz von Dr. Anna-Maria Platschek steht dabei der Zusammenhang zentralnervöser Gehirnaktivität und kognitiver Leistungsfähigkeit im Fokus. In einer Pilotstudie, der PAPO-Studie, konnte die Wissenschaftlerin des Instituts für Bewegungs- und Neurowissenschaft bereits nachweisen, dass eine unterstützende Bewegungstherapie in den kinderonkologischen Klinikalltag integrierbar ist und sich positiv auf die aktuelle Befindlichkeit auswirkt. Welche neuen Erkenntnisse hinzugekommen sind, verrät die 38-Jährige im Interview.
Frau Platschek, wofür steht die Abkürzung Ihrer Pilotstudie PAPO?
PAPO steht für „Physical Activity in Pediatric Oncology". Mit diesem Projekt sind wir vor mittlerweile sieben Jahren ins kalte Wasser gesprungen. Während bei Erwachsenen zu dieser Zeit bereits viele Daten bezüglich einer supportiven Bewegungstherapie vorlagen, war dieser Ansatz in der pädiatrischen Onkologie noch fast gar nicht untersucht. Daher war es uns damals wichtig, zunächst einmal zu schauen, ob ein Bewegungsprogramm überhaupt in den Klinikalltag der Kinder integrierbar ist und was die Auswirkungen davon sind.
Sie haben herausgefunden, dass sich eine begleitende Bewegungstherapie positiv auswirkt. Was sind konkrete Ergebnisse?
Allen voran ergab die Befragung nach dem Aktivitätsverhalten, dass die Kinder vor ihrer Erkrankung circa zweiunddreißig Stunden im Monat körperlich aktiv waren; während der Erkrankung nur noch circa fünf Stunden. Das ist schon ein immenser Unterschied und verdeutlicht die Notwendigkeit von Bewegungsangeboten während der Therapie. Dabei zeigte sich zusätzlich ein positiver Zusammenhang zwischen der Aktivität vor und während Erkrankung. Diejenigen, die vor der Erkrankung ein höheres Aktivitätslevel aufwiesen, zeigten während der Erkrankung ebenfalls ein höheres Aktivitätslevel. Bezüglich der Bewegungstherapie in der Akutphase konnten wir zeigen, dass sich die wahrgenommene Befindlichkeit unmittelbar nach den Bewegungseinheiten verbesserte, sich die Bewegung also positiv auf die körperliche und psychische Befindlichkeit sowie die Motivationslage auswirkte. Aber nicht nur die Befindlichkeit wurde positiv von der Bewegungstherapie beeinflusst, sondern auch die CRF-Symptomatik. Spannend war hier, dass die Bewegungstherapie der PAPO-Studie, die bei den Kindern eher in der Mitte der Therapie stattfand, einen größeren Einfluss auf die CRF hatte, als die Bewegungstherapie der ChiMove-Studie, die am Anfang der Therapie stattfand.
Sehr spannend ist auch, dass nicht nur das Aktivitätslevel während, sondern auch vor der Erkrankung eine Rolle bezüglich der CRF-Symptomatik spielte. Es zeigte sich im Regressionsmodell, dass eine Erhöhung der Bewegungszeit vor der Erkrankung um eine Stunde pro Tag mit einer Steigerung von circa sieben Prozent des CRF-Scores einherging. Das entspricht einer sehr deutlichen Verminderung der CRF-Ausprägung, da ein Anstieg des CRF-Scores einem geringer wahrgenommenem Fatigue entspricht.
Die Untersuchungen haben in der Uniklinik Köln stattgefunden. War es einfach, Proband*innen zu rekrutieren?
Jein. Die Rekrutierung erfolgt letztendlich in zwei Schritten. Im ersten Schritt entscheiden die Ärzte und das Klinikpersonal, ob ein Kind aus medizinischer und psychosozialer Sicht in die Studie eingeschlossen werden kann. Zeitgleich wird überprüft, ob das Kind die Einschlusskriterien der Studie erfüllt – viele Kinder fallen hier schon aufgrund des zu jungen Alters aus dem Raster. Zu Beginn sind wir also erstmal auf das Klinikpersonal und auf infrastrukturelle Gegebenheiten angewiesen. Sobald wir dann mitgeteilt bekommen, dass ein Kind für die Studie in Frage kommt, gehen wir im zweiten Schritt zu dem Kind und deren Familie und klären sie über die Studie auf. Kinder, die vor der Erkrankung viel Sport getrieben haben, überlegen nicht lange und nehmen teil, (fast) alle anderen bekommen wir überzeugt – wir hatten in der ganzen Zeit nur zwei oder drei Kinder, die sich gegen das Programm entschieden haben. Dank der guten Zusammenarbeit mit der Kinderonkologie der Uniklinik Köln klappt die Rekrutierung daher gut, wirklich einfach ist diese allerdings nicht.
Aufbauend auf den Ergebnissen der PAPO-Studie führen Sie derzeit die ChiMove-Studie durch. Worum geht es hierbei?
Wir konnten nun viele Ergebnisse bezüglich positiver Effekte von Bewegung auf die CRF aufzeigen. Als Nächstes stellt sich natürlich die Frage, warum ist das so? Mit unserer ChiMove-Studie, das ist die Abkürzung für 'Chemobrain in Movement', wollen wir nun die Frage unter neurowissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachten. Eine Vielzahl onkologischer Patienten und Patientinnen berichtet neben physischen auch über kognitive Beeinträchtigungen während und nach einer chemotherapeutischen Krebsbehandlung. Dieses Krankheitsbild, welches umgangssprachlich als 'Chemobrain' bezeichnet wird, geht mit Konzentrationsschwächen, verringerter Merkfähigkeit und Desorganisation einher. In Anbetracht der kognitiven Erschöpfung innerhalb der CRF-Symptomatik schließt sich hier der Kreis. Daher untersuchen wir in der ChiMove-Studie den Zusammenhang und Verlauf der CRF, der zentralnervösen Gehirnaktivität und der kognitiven Leistungsfähigkeit in Abhängigkeit des Aktivitätsniveaus.
Welche grundlegenden Erkenntnisse sollen mit der Forschungsarbeit gewonnen werden?
Primäres Ziel ist es, zugrundeliegende neurophysiologische Prozesse von Sport und Bewegung sowie deren Bedeutung für die CRF und die kognitive Leistungsfähigkeit zu detektieren. Alle Erklärungsmodelle zur Ursache und Entstehung von CRF gehen von einer multifaktoriellen Genese aus, welche durch die Erkrankung oder die Therapiefolge beeinflusst wird. Als zugrunde liegende Faktoren werden unter anderem eine Regulationsstörung entzündlicher Zytokine, die Störung hypothalamischer Regelkreise, Veränderungen im serotonergen System des Zentralnervensystems und Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus diskutiert. Augenscheinlich spielen bei der CRF also Veränderungen im Gehirn eine große Rolle.
Welche Ergebnisse liegen vor?
Konkret dazu leider noch keine. Wir werten gerade die EEG-Daten sowie die Daten des kognitiven Testverfahrens aus, momentan nehmen noch zwei Kinder an der Studie teil. Ich hoffe, dass wir spätestens Mitte/Ende des Jahres die Daten ausgewertet haben, um einen tieferen Einblick in den Zusammenhang von Neurowissenschaft, CRF und Bewegung in dieser Klientel gewinnen zu können.
Wie kann man sich eine Bewegungstherapie in der Behandlung von krebskranken Kindern konkret vorstellen? Was sind die Herausforderungen?
Die Bewegungstherapie in der pädiatrisch-onkologischen Akutklinik unterscheidet sich schon sehr zu anderen Settings. Die Kinder befinden sich in einer Ausnahmesituation. Wenn ich in die Uniklinik fahre, weiß ich eigentlich nie, was mich erwartet. Es gibt Tage, da bin ich zehn Minuten auf Station und stelle fest, dass leider kein Kind in der Lage ist, sich körperlich zu betätigen, und es gibt Tage, da verbringe ich zwei bis drei Stunden in der Klinik, weil die Kinder einigermaßen fit sind und die sportliche Ablenkung vom Klinikalltag genießen. Alles richtet sich nach der Tagesform des Kindes, dadurch ist eine hohe Flexibilität aller Beteiligten gefordert. Konkret führen wir die individuelle Bewegungstherapie im Patientenzimmer oder in der stationseigenen Schule mit einer aktiven Spielekonsole durch, Exergaming genannt. Auch wenn diese Art von Bewegung bei Gesunden oft kritisch betrachtet wird, ist sie für diese Klientel aufgrund der Kinderfreundlichkeit und hygienischer Aspekte meines Erachtens sehr sinnvoll. Zuerst müssen dann die Geräte, die an einem Infusionsständer angebracht sind, an den Strom angeschlossen werden. Infusionsständer und -schlauch müssen so positioniert werden, dass sie beim Spielen nicht stören. Dann kann es losgehen. Die Kinder spielen am liebsten die Spiele mit den Sportarten, die sie vor der Erkrankung ausgeübt haben. Bei den Jungen sind beispielsweise Fußball, Tischtennis und Leichtathletik beliebt, bei den Mädchen steht eher das Tanzen hoch im Kurs. Jüngere Kinder spielen hingegen gerne ein Abenteuerspiel, bei dem die Kinder zum Beispiel auf einem Boot einen Wildwasserkanal bezwingen müssen. Die verschiedenen bewegungsbasierten Spiele können alleine oder zusammengespielt werden und sind dabei variabel bezüglich Präferenzen und der Belastungsgestaltung. Ich kann noch gut mithalten, doch beim Tanzen haben komischerweise immer die Kinder die Nase vorn (lacht).
Welche weiteren Maßnahmen müssen in der Zukunft getroffen werden?
Aus allen Ergebnissen leite ich die Forderung ab, dass in Zukunft eine flächendeckende Bewegungstherapie in der Kinderonkologie installiert werden sollte. Derzeit bietet noch nicht mal ein Drittel aller pädiatrisch-onkologischen Kliniken in Deutschland ein Bewegungsangebot an. Hierfür ist Aufklärungsarbeit erforderlich, da die positiven Effekte von körperlicher Aktivität im Zusammenhang mit Krebserkrankungen in der Kinderonkologie erst in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen haben. In Gesprächen auf internationalen Kongressen, speziell die ich innerhalb der MASCC Fatigue Study Group geführt habe, wird immer wieder deutlich, dass in der pädiatrischen Onkologie den kognitiven und emotionalen Nebenwirkungen generell wenig Aufmerksamkeit zugemessen wird. Auch das sollte sich meiner Meinung nach ändern, gerade vor dem Hintergrund, wie präsent die CRF auch in der Kinderonkologie ist, wie diese Begleiterscheinungen den Alltag, die Schullaufbahn und folgend die berufliche Karriere ggf. nachhaltig negativ beeinflussen können und wie hoch belastend die CRF doch ist. Es müssen evidenzbasierte Empfehlungen für die Trainingsgestaltung entwickelt werden, daran wird bereits schon innerhalb einer internationalen Arbeitsgruppe gearbeitet. Weitere sportwissenschaftliche Untersuchungen sind dafür natürlich auch erforderlich, damit eine noch größere Brücke zwischen der Wissenschaft und der klinischen Praxis geschlagen werden kann.
Interview: Lena Overbeck
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