Leben und Bewegen ohne Puls
Wer bei Helmut Eiterig den Puls auf die übliche Weise ertasten möchte, wird erstmal an den eigenen Fähigkeiten zweifeln oder ein Wunder vermuten: Obwohl bei ihm kein Puls fühlbar ist, steht Helmut Eiterig quicklebendig im Seminar der Sporthochschule und berichtet den Studierenden aus seinem Leben. In der Lehrveranstaltung geht es um das medizinisch-technische Wunder, das es ihm ermöglicht, trotz einer schweren Herzerkrankung am normalen Leben teilzunehmen: ein sogenanntes left ventricular assist device, kurz LVAD. Ein Kunstherz.
Seminarleiter Jun.-Prof. Thomas Schmidt kennt Helmut Eiterig seit seiner Doktorarbeit und seiner Arbeit in der Schüchtermann Klinik in Bad Rothenfelde. Er weiß, dass das Geheimnis des Mannes ohne Puls technischer Art ist. Ein LVAD ist eine elektromagnetische Pumpe, die das Herz-Kreislaufsystem durch einen kontinuierlichen Fluss unterstützt. Eine Pulswelle oder den Blutdruck mit gewöhnlichen Methoden zu messen, ist bei LVAD-Patient*innen nicht mehr möglich. Die Pumpe wird direkt an der linken Herzkammer (Linker Ventrikel) eingesetzt und unterstützt das Herz dabei, den Kreislauf aufrecht zu erhalten und so die Organe ausreichend zu versorgen. Von außen fällt das Unterstützungssystem nur auf, weil LVAD-Patient*innen meist eine Tragetasche mit sich führen, in der die Elektronik verstaut ist. Sie versorgt die Pumpe von außerhalb des Körpers durch die Bauchdecke über einen kleinen Schlauch mit Strom.
Ein LVAD wird Menschen implantiert, deren Herzleistung – etwa nach einem Herzinfarkt oder einer Herzmuskelentzündung – so stark geschwächt ist, dass sie eigentlich ein Spenderorgan bräuchten. Man spricht auch von einer schweren Herzinsuffizienz. So auch bei Helmut Eiterig, der vor rund acht Jahren einen schweren Herzinfarkt hatte. Seitdem ist sein Herz ohne Unterstützung nicht mehr in der Lage, den Kreislauf aufrecht zu erhalten. Seine Organe würden nicht mehr ausreichend mit Blut versorgt. Weil es aber so wenige Spenderherzen gibt, bietet das LVAD eine temporäre Alternative für die Zeit auf der Warteliste. Auch Patient*innen, die aufgrund von Kontraindikationen zur Herztransplantation (z.B. Begleiterkrankungen oder höheres Lebensalter) nicht für ein Spenderherz geeignet sind, profitieren von dem System. Helmut Eiterig lebt mittlerweile seit mehr als sieben Jahren mit seinem Kunstherz.
Schon seit ihm das LVAD Anfang 2016 eingesetzt wurde, begleitet Jun.-Prof. Thomas Schmidt – damals noch als Doktorand – den Patienten. Um über das Herzunterstützungssystem praxisnah zu informieren und um Berührungsängste abzubauen, hat der Juniorprofessor am Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin der Sporthochschule Helmut Eiterig in sein Seminar mit Studierenden aus dem Master M.A. Rehabilitation, Prävention und Gesundheitsmanagement eingeladen. Die Frage im Seminar: Ist eine Sport- und Bewegungstherapie auch für LVAD-Patienten*innen möglich und sinnvoll? Und falls ja: Was geht und was nicht? Helmut Eiterig kann mit dem Gerät zum Beispiel nicht schwimmen, denn die Technik darf nicht nass werden. Stattdessen sitzt der 69-Jährige fast täglich auf seinem Fahrradergometer und spult seine zehn Kilometer in 22 Minuten ab. Denn: Mit gewissen Vorkehrungen können auch LVAD-Patient*innen körperlich aktiv sein, erfahren die Studierenden im Seminar. Und das ist, wie Schmidt betont, auch wichtig: „Die Sport- und Bewegungstherapie ist ein elementarer Bestandteil in der Nachsorge von Herzinsuffizienz-Patient*innen. Auch für Herzinsuffizienz-Patienten mit implantierten LVAD ist sie sicher durchführbar, wenn bestimmte Punkte beachtet werden. Vermeiden sollten Patienten zum Beispiel schnelle Lagewechsel, hohe Thoraxbelastungen oder isolierte Bauch- und Rückenmuskelübungen“, sagt Schmidt. Neben Sportangeboten mit Wasserkontakt seien auch Sportarten mit einem höheren Verletzungs- und Blutungsrisiko kontraproduktiv. Zudem sollten „Gefahren“ für die „Driveline“ – das ist der Schlauch, der die Pumpe mit der Elektronik verbindet – vermieden werden, zum Beispiel dynamische Team-Sportarten wie Basketball oder Handball. Bei diesen Sportarten ist die Driveline im Weg und es besteht die Gefahr, dass jemand daran hängenbleibt. Helmut Eiterig geht mit gutem Beispiel voran: Zusätzlich zum Ergometerfahren verzichtet er seit seinem Herzinfarkt komplett auf Alkohol und Zigaretten. Damit habe er seinen Blutdruck so weit senken können, dass er keine Blutdruckmedikamente mehr benötigt, erzählt er stolz.
Weil es bei Therapeut*innen und Ärzt*innen oft Unsicherheiten und Berührungsängste gebe, ist es Schmidt ein Anliegen, dass seine Studierenden direkt im Studium mit dem Unterstützungssystem in Kontakt kommen. Mit Hilfe der Erfahrungsberichte eines Betroffenen sollen sie praxisnah lernen, welche Angebote für die Patient*innen ohne Komplikationen möglich und welche Therapieformen sinnvoll sind. „Wenn Sie später einmal in einer Rehaeinrichtung arbeiten oder hospitieren, dann kommen Sie sicherlich mit LVAD-Patienten in Kontakt“, sagt Schmidt in Richtung seiner Studierenden. „Mittlerweile werden in Deutschland nämlich zwei bis drei Mal so viele LVAD-Systeme implantiert verglichen zu den durchgeführten Herztransplantationen“. Daher ist es ihm ein Anliegen zu erklären, was man mit den Patienten in der Reha machen kann und worauf man achten sollte.
Aber auch über das Thema Organspende will Jun.-Prof. Thomas Schmidt in seinem Seminar informieren. Im Jahr 2021 standen 727 Menschen auf der Warteliste für ein Spenderherz; nur 329 Herzen wurden transplantiert. Auch Helmut Eiterig wartet noch. In seinen sieben Jahren Wartezeit hat er aber nicht nur – wie im Spoho-Seminar – angehenden Studierenden von dem Leben mit Kunstherz berichtet. Er hat auch die größte Selbsthilfegruppe für LVAD-Patient*innen in Deutschland gegründet: die Doppelherzen. Auf der Website der Doppelherzen finden Betroffene und Angehörige ein umfangreiches Informationsangebot, das hilft, das LVAD zu verstehen und damit zu leben. Hier bietet Helmut Eiterig LVAD-Patient*innen auch ganz konkrete Unterstützung an, zum Beispiel beim Antrag auf Schwerbehinderung oder Pflegegeld. Von einem Studenten wird Helmut Eiterig zum Schluss noch gefragt, ob es ihn denn nicht einschränke, rund um die Uhr sein drei Kilogramm schweres Kunstherz* herumzutragen. Seine Antwort: „Nein, vor allem bin ich froh, dass ich noch lebe.“
*Anmerkung: Gemeint ist das Equipment zur Pumpe. Die Pumpe an sich wiegt nur 160 Gramm.
Zur Website der Doppelherzen: https://www.herzpatient.info/
Zur Website der Deutschen Stiftung Organtransplantation: https://dso.de/
Anmerkung zum rechten Bild: Dadurch, dass LVAD-Patient*innen keinen spürbaren Puls haben, kann der Blutdruck nicht standardmäßig gemessen werden, denn es gibt keine wirkliche Differenz zwischen Diastole und Systole. Mit einer Ultraschall-Doppler-Sonde macht Jun.-Prof. Thomas Schmidt über ein peripheres Gefäß am Handgelenk den (kontinuierlichen) Fluss per Dopplertechnik akustisch hörbar.