„Die Natur ist ein wunderbarer Spielplatz.“

Mirjam Limmer (36) ist in Bamberg geboren und in Ingolstadt aufgewachsen. Nach dem Abi verbringt sie ein halbes Jahr in Neuseeland, wo sie bergbegeisterte Menschen trifft und ihre Passion entdeckt. Ihr sportwissenschaftliches Studium macht sie an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2013 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Outdoor Sport und Umweltforschung und Leiterin des Lehr- und Forschungsgebietes Berg- und Klettersport der Spoho und seit Sommer 2021 promovierte Sportwissenschaftlerin.

Was fasziniert dich so an den Bergen?
Im Bergsport bestimmt die Natur das Regelwerk, das ist die Herausforderung und gleichzeitig das Faszinierende. Die Natur setzt die Grenzen, sowohl räumlich als auch bezogen auf die körperliche Leistungsfähigkeit. Das alles macht den Bergsport zu einem sehr komplexen Sport.

Woher kommt deine Leidenschaft?
Wir waren mit der Familie viel in den Bergen unterwegs, haben auf Berghütten übernachtet, wurden mit Buttermilch und Schoki geködert (lacht). Nach dem Abi war ich dann in Neuseeland, und von da ab wuchs mein Interesse, mehr zu machen. Der Bergsport lebt von Erfahrungen, die man im Laufe der Zeit sammelt und auf die man aufbauen kann, von Gleichgesinnten, die einen mitnehmen, von denen man lernen kann. Man fängt klein an und macht dann nach und nach immer größere und schwierigere Touren – damit wächst auch die Leidenschaft.

Welche Bergsportdisziplin gefällt dir am besten?
Ich mag den Bergsport gerade deswegen, weil er so facettenreich ist – da wird es nie langweilig. Im Winter spielt sich viel abseits der sportlich geregelten Infrastruktur ab, zum Beispiel Freeriden, Skitourengehen, Skihochtourengehen im Glet-schergebiet oder Eisklettern. Im Sommer zählen dazu Wandern, Bergsteigen, Hochtourengehen, Felsklettern und Sportklettern, Bouldern, Klettersteige. Mir persönlich gefällt alles mit Schnee und Eis richtig gut!

Wie weh tut es dir da, dass du im bergfernen Köln wohnst?
Ach, damit habe ich mich gut arrangiert. Während der Woche arbeite ich viel und lange, und an den Wochenenden bin ich dann unterwegs und kann mich komplett auf den Berg konzentrieren, kein Schreibtisch, kein Telefon, nur Natur. Die Schweiz erreicht man von Köln aus super mit dem Zug. Zum Klettern bin ich auch gerne in der Fränkischen Schweiz oder in der Pfalz.

Wie fühlst du dich, wenn du einen Gipfel erreicht hast?
Das richtige Glücksgefühl stellt sich meist erst im Nachhinein ein. Oben auf dem Gipfel gibt es einen eher kleinen Moment der Freude: kurz abklatschen, Foto machen, etwas essen und trinken. Dieses wirklich faszinierende und langanhaltende Gefühl kommt später, wenn man heil zurück ist und die ganze Anspannung abfällt. Der Blick zurück auf den Berg, das Reden über die Erlebnisse, das sind die richtig schönen Momente.

Gibt es auch Momente der Angst?
Angst ist im Bergsport meiner Meinung nach ein wichtiger Bestandteil des Risikomanagements. Sie bedeutet in der Regel, dass man unbewusst Gefahr wahrnimmt. Wichtig ist, das Gefühl richtig einzuordnen und eine Entscheidung zu treffen. Ein Restrisiko bleibt immer. Aber wenn man davor Angst hätte, könnte man diesen Sport nicht leben. Daher muss man das Restrisiko so klein wie möglich halten. Und das gelingt umso besser, je mehr Erfahrung man hat.

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Was ist in deinen Augen die größte Gefahr in den Bergen?
Unfallstatistiken der Bergrettung zeigen, dass sich Unfallszenarien häufen, bei denen sich Menschen selbst in eine Situation manövriert haben, aus der sie sich aus eigener Kraft nicht mehr lösen können, etwa, weil sie nicht weiterkommen oder zu erschöpft sind. Das größte Risiko liegt also in uns selbst. Natürlich gibt es objektive Gefahren wie Wetterumschwünge oder Eis- und Felsstürze, aber die meisten Gefahren entstehen durch Unachtsamkeit und Fehleinschätzungen.

Welchen Berg oder welche Wand möchtest du noch meistern?
Die Eiger Nordwand steht ganz oben auf meiner Liste. Die hatte ich in diesem Jahr schon im Visier, dann musste die Tour kurzfristig ausfallen. Im Bergsport spreche ich ganz gerne von der Singularität der Möglichkeiten. Da muss so viel zusammenpassen: richtige Zeit, richtiger Ort, man muss frei kriegen, einen Kletterpartner haben, der auch Zeit hat und fit ist, gutes Wetter, ideale Bedingungen, sprich genügend Eis in der Wand. Dass alle diese Parameter stimmen, kommt leider nicht so häufig vor. Neben dem Eiger möchte ich nochmal auf Expedition in den Himalaya – der fasziniert mich besonders, dort finde ich Ruhe – und zum Rissklettern in die USA.

Rissklettern? Was ist das?
Das ist eine Klettertechnik, bei der man die Hände und Finger in den Felsrissen verklemmt.

Autsch, das hört sich schmerzhaft an. Stimmt es, dass Kletterer ziemlich verrückt sind?
Ich würde eher sagen: speziell. Bergsportler*innen sind häufig sehr starke Charaktere. Als Bergführer*in trägt man große Verantwortung, man muss gewillt sein, eine Führungsrolle zu übernehmen. Viele Bergsportler*innen sind sehr willensstark, der Sport erfordert ein gewisses Durchhaltevermögen.

Wie hältst du dich fit?
Was das Training angeht, bin ich eher nicht von der planvollen Sorte. Ich mache einfach gerne viel Sport, fast jeden Tag und möglichst variabel: klettern, laufen, Rad fahren, Yoga. Nach Feierabend kann ich noch gut zwei bis drei Stunden in der Kletterhalle verbringen, und wenn ich mehr Zeit habe, fahre ich raus an den Fels.

Welche ‚Soft Skills‘ sind im Bergsport wichtig?
Man sollte konsequent, klar in der Kommunikation und entschlusskräftig sein und in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf bewahren können. Man braucht Empathie und feine Antennen für seine Mitmenschen.

Deine persönliche Leidenschaft für den Bergsport wird auch in deiner wissenschaftlichen Arbeit sichtbar.
Genau, der Bergsport ist die umspannende Klammer meiner Forschungsbereiche: Sportklettern, Hypoxie und Bildung zur nachhaltigen Entwicklung durch Natursport. Im Sportklettern untersuche ich zum Beispiel, welche Maßnahmen sich eignen, um die Leistung zu steigern oder die Regenerationsfähigkeit zu fördern. Unter diesem Aspekt habe ich mir unter anderem die Wirkweisen von Kinesiotaping, Kompression, Flossing und Kaltwasserimmersion angeschaut. Meine anderen Projekte beschäftigen sich mit dem Bergsteigen in größeren Höhen bei vermindertem Sauerstoffpartialdruck, also unter Hypoxiebedingungen. Hier untersuche ich verschiedene leistungsphysiologische Aspekte, kognitive Prozesse wie Aufmerksamkeitsfähigkeit und Hand-Auge-Koordination.

Wo siehst du dabei die Relevanz?
Konzentrationsfähigkeit, körperliche Leistungsfähigkeit oder Hand-Auge-Koordination sind Parameter, die den Bergsport beeinflussen. Wenn wir zum Beispiel jemandem beim Klettern am Stand sichern und mit Karabinern, Bandschlingen und Knoten hantieren, dann brauchen wir Feinkoordination. Wenn es dort unter Hypoxie zu funktionalen Beeinträchtigungen kommt, sollten wir das wissen.

Du hast dich auch schon mit dem Säure-Basen-Haushalt befasst, oder?
Genau, unter Hypoxie ist unser Säure-Basen-Haushalt aus dem Gleichgewicht; es wird vermehrt Bikarbonat ausgeschieden. Bikarbonat übernimmt aber eine wichtige Pufferfunktion im Blut, indem es Säuren abpuffert und so zur Regulation des pH-Wertes beiträgt. Bei anaeroben Belastungen, zum Beispiel bei langem, schwerem Klettern, entsteht Milchsäure. Das Problem: Wenn Milchsäure in unserem Körper in größeren Höhen entsteht und nur unzureichend abgepuffert werden kann, könnte das die körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Also habe ich untersucht, ob es sinnvoll ist, Bikarbonat über die Ernährung zuzuführen.

Was ist herausgekommen?
Wie so häufig in der Wissenschaft haben wir durch diese Untersuchungen mehr Türen geöffnet als geschlossen. Aber es hat sich angedeutet, dass eine Bikarbonat-Zufuhr unter Hypoxie funktionieren könnte, um die Leistungsfähigkeit zumindest gleich hoch wie auf Meereshöhe zu halten. Gleichzeitig haben sich viele neue Fragen aufgetan, zum Beispiel: Zu welchem Zeitpunkt sollte die Nahrungsergänzung oder Ernährungsumstellung erfolgen? Vor Beginn der Tour oder erst, wenn das Bikarbonat-Level sinkt? Da müssen noch weitere Untersuchungen folgen.

Wie nachhaltig und umweltbewusst lebst du eigentlich selbst?
Die Forschung zeigt – und das trifft vermutlich auch auf mich zu – dass Natursportler*innen ein hohes Umweltbewusstsein haben, ihr Umweltverhalten insgesamt aber nicht unbedingt ausgeprägter ist als das anderer Sportler*innen. Wir reisen sehr viel, was dazugehört, wenn wir diesen Sport so betreiben wollen und diesen Lebensstil so leben möchten. Ich versuche daher, möglichst oft mit dem Zug zu fahren. Zudem: Ich esse sehr wenig Fleisch und achte auf dessen Herkunft. Auch bei Obst und Gemüse achte ich darauf, dass es aus der Region kommt. Und ich trage meine Kleidung sehr lange – eigentlich immer bis sie Löcher hat und man sie nicht einmal mehr zum Klettern anziehen kann! (lacht)

Und wie verhältst du dich in der Natur?
Respekt- und rücksichtsvoll! Nur zwei Beispiele: Beim Wandern auf den Wegen bleiben und die Skitour bei Tageslicht beenden, um in der Däm-merung keine Wildtiere zu stören. Dieses Wissen auch an meine Studierenden weiterzugeben, finde ich super wichtig. Die Natur ist ein wunderbarer Spielplatz. Wir Menschen sollten aber respektieren, dass wir da nicht allein spielen, sondern dass es Gebiete und Zeiten gibt, in denen wir anderen den Vortritt lassen sollten.

Randnotizen

Große Nordwände der Alpen

Mirjam Limmer ist fasziniert von den sechs großen Nordwänden der Alpen: Eiger, Grandes Jorasses, Matterhorn, Petit Dru, Piz Badile und Große Zinnen. Als eines ihrer nächsten Ziele hat sie die Eiger-Nordwand auserkoren.

Klettern rund um Köln

In der Kölner Umgebung mag Mirjam Limmer zum Felsklettern beispielsweise die Gerolsteiner Dolomiten, den Bochumer Bruch oder die Buntsandsteinfelsen bei Nideggen. Aber: Das Klettern am Fels in NRW wird aktuell sehr streng beäugt, es gibt Diskussionen zum Naturschutz aufgrund großer Nutzungszahlen an den Felsen. Limmer betont, dass es viel Erfahrung bedarf, bevor man aus der Halle an den Fels gehen kann.

Gut zu wissen

Wandern oder Bergsteigen? Bergsteigen unterscheidet sich vom klassischen Wandern durch das Gelände, in dem man unterwegs ist, aber vor allem durch die Sicherungstechniken. Beim Bergsteigen braucht man zwischendurch Seil, Karabiner oder Klettersteigset. Hochtourengehen findet im Gletschergebiet statt, dafür braucht man Eispickel, Steigeisen und Seil.

Noch Zeit?

Auf ihrer Webseite hat Mirjam Limmer mehrere Expeditionen mit Bildern und Texten dokumentiert, unter anderem Ama Dablam (6.814m) und Raksha Urai III (6.640m).
www.mirjamlimmer.com