Sexualisierte Gewalt im Sport

>> TRIGGERWARNUNG: Im folgenden Beitrag geht es um sexuelle und sexualisierte Gewalt. Es werden sexualisierte Gewalthandlungen und deren Folgen geschil-dert. Diese Schilderungen können belastend und retraumatisierend sein. >>

Sexualisierte Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Sie passiert nicht nur in der Kirche. Auch im Sport gibt es Strukturen, die es Täter*innen leicht machen, sich Opfer zu suchen. Abhängigkeit, Leistungsdruck, Isolation: Der Sport birgt systemische Risiken. Wie häufig ist sexualisierte Gewalt im Sport, und was braucht es, um entschieden gegen sie vorzugehen? Ein Einblick in Studien des Instituts für Soziologie und Genderforschung.

Horst ist 10 Jahre alt, als er in einen Sportverein eintritt. Er will Fußball spielen. Einer der Trainer ist ihm von Beginn an zugewandt. Er bietet ihm ogar an, nach dem Training sein Auto zu lenken. Horst weiß nicht, wie er auf die Anfrage reagieren soll. Er hat Angst, nicht mehr mittrainieren zu dürfen, wenn er das Angebot ablehnt. Also steigt er ein. „Er bog in einen Feldweg ein, im Dunkeln, machte den Motor aus, ich sollte wieder auf den Beifahrersitz, er zog seine Hose runter, ich sollte meine Hose runterziehen, meinen Pimmel in die Hand nehmen und bewegen. Er hat es mir vorgemacht, wie das geht. Ich habe das gemacht, wusste aber nicht, was das sollte, und fragte ihn dann auch. Er gab mir keine Antwort, worauf ich ihm sagte, dass ich jetzt nach Hause wollte. Mein Fahrrad war noch auf dem Sportplatz. Und jetzt hatte ich Angst, einfach nur Angst, nicht mehr nach Hause zu kommen“, schreibt Horst viele Jahre später online.

Es gibt Horst wirklich. Heute müsste er über 70 sein. Seine Erfahrungen stammen aus seiner Kindheit in den 1960er Jahren. An die Details erinnert er sich bis heute. Zu finden ist Horsts Bericht auf dem Portal „Geschichten, die zählen“ der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Diese weltweit einzigartige Plattform bietet Betroffenen die Möglichkeit, über ihre Erfahrungen zu sprechen: über sexuelle Gewalt, die sie in ihrer Kindheit und Jugend erlebt haben, über die Folgen von Missbrauch, aber auch über ihre Kraft und ihren Mut, das Geschehene zu bewältigen. Seit 2016 haben mehr als 2.000 Menschen die Anlaufstelle genutzt, um vertraulich über das Erlebte zu sprechen. Einige von ihnen haben schriftliche Berichte geschickt. Setzt man online den Filter „Sport“, findet man 22 Treffer. Einer dieser Treffer – ein Bericht, der öffentlich zugänglich gemacht wurde – ist die Geschichte von Horst. Die Berichte sind nur ein kleiner Auszug von dem, was im Archiv der Aufarbeitungskommission zusammengetragen wurde. Nicht alle Betroffenen haben Missbrauch erlebt, wie Horst. Ihre Schilderungen zeigen aber, wie anfällig der Sport für sexualisierte Gewalt sein kann.

Am Institut für Soziologie und Genderforschung der Deutschen Sporthochschule Köln beschäftigt sich Prof.in Bettina Rulofs damit, welche Bedingungen sexuelle Übergriffe im Sport begünstigen und wie man ihnen vorbeugen kann. Für eines ihrer Forschungsprojekte – VOICE – hat sie Interviews mit Betroffenen wie Horst geführt und deren Aussagen qualitativ untersucht. Die sportbezogenen Berichte, die bei der Aufarbeitungs-komission eingegangen sind, werten Rulofs und ihr Team gerade aus. Schon bald werden die Er-gebnisse veröffentlicht. Erfahrungsberichte und Schilderungen seien für ihre Forschung extrem wichtig, sagt Rulofs, um die Erlebnisse und deren Hintergründe besser einschätzen zu können; auch, weil das Thema lange tabuisiert worden sei. Als sie vor 25 Jahren versucht habe, mit Vorträgen oder Fortbildungen in Vereinen über das Thema zu informieren, seien ihr mitunter die Türen vor der Nase zugeschlagen worden. „Das war ganz nach dem Motto: ‚So was gibt es bei uns nicht! Bleibt uns weg mit diesem schmutzigen Thema‘“, erinnert sich Rulofs. „Die meisten Leute gehen davon aus, dass so etwas gerade im Sport nicht passiert.“ Dabei sei auch der Sport anfällig für Grenzüberschreitungen – oder "mit systemischen Risiken verbunden“, wie Bettina Rulofs sagt.

Sexualisierte Gewalt bedeutet, mit dem Mittel der Sexualität Macht auszuüben. Es gibt verschiedene Formen und Schweregrade: von verbalen oder digitalen Belästigungen bis hin zu ungewollten sexuellen Berührungen und Vergewaltigung. „Das Markante an der sexuellen Gewalt ist, dass sich die Täter über die betroffenen Personen stellen, damit Macht ausüben und die betroffenen Personen in der Regel nicht zustimmen oder auch aufgrund ihres Alters nicht zustimmen können, weil sie noch nicht den Entwicklungsstand haben, um zu verstehen, was da mit ihnen passiert“, erklärt Rulofs. Bewusst spricht sie von ‚Tätern‘, denn ihre Daten zeigen: Sexualisierte Gewalt geht überwiegend von Männern aus. Fälle von Frauen sind die Ausnahme. Meistens seien es Trainer oder Personen in einer hervorgehobenen Position – manchmal auch Vereinsfunktionäre – die Gewalt ausüben; Menschen mit Macht, die oft eine hohe Anerkennung in ihrem Umfeld genießen. „Von denen erwartet dann niemand, dass Belästigung oder Gewalt von ihnen ausgehen könnte“, sagt Rulofs. Dass im Sport der Körper im Mittelpunkt steht und Kinder- und Jugendliche oftmals von der Zuwendung und der Förderung der Trainer*innen abhängig sind – gerade wenn sie erfolgreich sein und Leistung zeigen wollen – mache den Sport durchaus riskant; besonders den Leistungssport. So erklärt sich auch die hohe Zahl Betroffener, die Bettina Rulofs und ihre Kolleg*innen des Instituts für Soziologie und Genderforschung gemeinsam mit Mitarbeiten-den des Universitätsklinikums Ulm in ihrer „Safe Sport“-Studie ermittelt haben. 37 Prozent der knapp 1.800 befragten Kaderathlet*innen hatten im Kontext des Sports eine Form von sexualisierter Gewalt erlebt; elf Prozent besonders schwerwiegende sexuelle Belästigungen wie etwa sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt, Stalking oder wiederholte Belästigungen.

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Bettina Rulofs kann einschätzen, wie die Situationen aussehen, in denen es im Sport zu unangemessener Nähe kommt. Sie erkennt, wo es eine Gefahr für Übergriffe gibt und versucht dies mit ihrer Forschung wissenschaftlich zu untermauern. Als Jugendliche ist sie selbst im Sportverein aktiv, macht mehrere Jahre lang Leistungssport. Ihre Paradedisziplin sind die 400 Meter. Sie kennt die Strukturen des organisierten Sports und kann deshalb – wie sie selbst sagt – anknüpfen an die Berichte der Betroffenen. Rulofs will mit ihrer Forschung Aufklärungsarbeit in Vereinen – manchmal auch Vereinsfunktionäre – eisten, informieren und Betroffenen Gehör verschaffen. Dafür braucht sie auch Unterstützung aus der Politik. „Als 2010 die Fälle des sexuellen Missbrauchs in Internatsschulen und in Kirchen bekannt wurden und die Bundesregierung einen Runden Tisch gegen sexuellen Kindesmissbrauch eingerichtet hat, an dem auch der Sport vertreten war, fingen auch viele im Sport an, sich mit dem Thema zu beschäftigen“, erinnert sich Rulofs. Die konkreten Zahlen als Grundlage für die Präventionsarbeit lieferte Rulofs dann wenige Jahre später selbst.

Auf die Daten aus dem Leistungssport folgten – gefördert durch die EU – qualitative Daten von 70 Betroffenen aus der Breite des europäischen Sports. Für Rulofs‘ VOICE-Studie berichteten sie in zum Teil mehrstündigen Interviews über ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. In einer weiteren Studie, die Rulofs ebenfalls mit dem Universitätsklinikum Ulm durchführte, wurden über 4.000 Vereinsmitglieder aus allen Bereichen des Sports befragt. Ein Viertel der Befragten berichtet davon, eine Form sexualisierter Gewalt erlebt zu haben. Ein Projekt mit über 10.000 Befragten in verschiedenen europäischen Ländern konnte helfen, mehr über die Orte zu erfahren, wo sexualisierte Gewalt passiert. „Der Sportverein wird mit Abstand am häufigsten genannt; auch Trainingszentren im Leistungssport, aber deutlich seltener. Oft werden Sportanlagen selbst genannt, also Sporthallen oder Sportplätze, aber auch Behandlungsräume“, berichtet Rulofs.

Die Daten und Erfahrungsberichte der Betroffenen helfen zu verstehen, wo sexualisierte Gewalt auftritt, wer gefährdet ist und wie man ihr vorbeugen könnte. Zuletzt zeigten Rulofs' Forschungsprojekte im Sport einen Zusammenhang von psychischer Gewalt – also Handlungen, die die psychische Gesundheit der Betroffenen beeinträchtigen – und dem Risiko für sexualisierte Gewalt auf. „In unseren Studien berichten die Betroffenen nicht nur von sexualisierter Gewalt, sondern auch von einem Klima der Angst, das in bestimmten Trainingsgruppen vorherrscht. Durch dieses Klima der Angst haben sie sich psychisch stark unter Druck gesetzt gefühlt und waren auch nicht in der Lage, sich dem Trainer zu widersetzen oder die Taten offen zu legen“, sagt Rulofs.

Deshalb sei es wichtig, dass sich Vereine proaktiv mit dem Thema auseinandersetzen; viele sind aber nicht gut aufgestellt. Auch das zeigen Rulofs‘ Daten aus der Safe Sport-Studie von 2016: Nur etwa 40 Prozent der Vereine engagieren sich aktiv im Bereich ‚Safe Sport‘. „Nur wenige Vereine haben Ansprechpersonen, also offiziell deklarierte Stellen oder Personen, an die man sich bei Problemen mit Gewalt allgemein oder auch mit sexueller Diskriminierung und Belästigung wenden kann“, sagt Rulofs. Den oft ehrenamtlich geführten Vereinen fehle es an Expertise, und die Ansprechpersonen der Verbände seien häufig mit schwierigen Konstellationen konfrontiert. „Oft steht bei einem Verdachtsfall Aussage gegen Aussage. Da aber Verbandsansprechpersonen auch die Interessen von Vereinen vertreten und nicht ausschließlich die der betroffenen Athlet*innen, entstehen mitunter Konflikte“, sagt Rulofs. Hinzu komme, dass Dachverbände wie Landessportbünde, die mittlerweile Ansprechpersonen haben, bei einem Vorfall auf Vereinsebene nicht durchgreifen können. Sie haben keine Befugnis, dem Verein Vorgaben zu machen. Ein Entzug der Trainer-Lizenz – wie er vielfach gefordert wird – sei zwar ein wichtiger Schritt, der aber nicht immer hilfreich sei, weil einige Trainer*innen gar keine Lizenz hätten. Außerdem komme es im Sport – ähnlich wie in der Kirche – zu Fällen, dass auffällige Personen einen Verein verlassen und im nächsten wieder neu anfangen. „Wir nennen das Vereinshopping“, sagt Rulofs. „Dort, wo Personen auffällig werden, angesprochen werden, ziehen sie sich zurück und gehen dann zum nächsten Verein. Das Wissen wird nicht weitergegeben.“

In ihrem neuen Projekt „Safe Clubs“ will Prof.in Bettina Rulofs gemeinsam mit Dr. Jeannine Ohlert von der Sporthochschule Köln und in Kooperation mit der Deutschen Sportjugend und mit einigen Landessportbünden deshalb Transferkonzepte für Sportvereine in Deutschland entwickeln. Die aus den Daten ihrer Studien abgeleiteten Tools sollen Vereinen helfen, angemessen mit Verdachtsfällen umzugehen. Eine zusätzliche Hilfe für Betroffene ist auch, dass die Ampel-Koalition der Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag ein Zentrum für Safe Sport angekündigt hat. Das Zentrum soll eine unabhängige Stelle außerhalb des organisierten Sports sein, an die sich Betroffene wenden können. Wann es eingerichtet wird, ist unklar. Wie nötig eine Stelle außerhalb des organisierten Sports ist, machen die Schilderungen von Horst deutlich.

Nach dem „Lenken im Wald“ geht Horst nicht mehr zum Training. Über das, was er im Wald erlebt hat, kann er nicht sprechen. Seine Mutter merkt ihm an, dass etwas nicht stimmt. Sie stellt Trainer und Jugendobmann des Vereins zur Rede, droht mit der Polizei, würde der Trainer Horst auch nur einmal wieder belästigen. Danach ist der Trainer erstmal weg. Horst kann wieder Fußball spielen. Wenig später steht der Trainer aber wieder auf dem Platz. Er trainiert andere Kinder. Und über den Jugendobmann, der das Gespräch mit Horsts Eltern begleitet hatte, schreibt Horst: „Der Jugendobmann […] war ein sehr guter Trainer, er hat sich Jahre später nur einmal erlaubt, mir in einem Jugendlager zwischen die Beine zu gehen. Ich habe ihn blutig geschlagen.“

Zahlen & Fakten

  • 37% der knapp 1.800 befragten Kaderathlet*innen haben im Kontext des Sports eine Form von sexualisierter Gewalt erlebt
  • 10 Tsd. Befragte aus verschiedenen europäischen Ländern konnten helfen, mehr über die Kontexte und Orte zu erfahren, an denen sexualisierte Gewalt im Sport passiert
  • 40% der Vereie engagieren sich im Bereich "Safe Sport"
  • Safe Clubs ist ein Forschungsprojekt, in dem Transferkonzepte zur Prävention und zum Umgang mit Verdachtsfällen in Sportvereinen erarbeitet werden

Wie lässt sich sexualisierte Gewalt vermeiden?

Drei Fragen an Prof.in Bettina Rulofs

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