Echte Pionierarbeit

Seit mehr als 20 Jahren wird an der Deutschen Sporthochschule Köln zum Thema sexualisierte und interpersonale Gewalt im Sport geforscht. Professorin Dr. Bettina Rulofs war 2004 eine der Ersten, die sich systematisch mit Machtmissbrauch im Sport befasst hat. Seitdem hat sich die Sporthochschule zur führenden Forschungs- und Beratungsinstitution zu dem Thema entwickelt. Mittlerweile arbeiten Wissenschaftler*innen verschiedener Institute gemeinsam an Projekten, geben damit Impulse für den organisierten Sport und haben bereits bedeutende Veränderungsprozesse angestoßen.

Im Jahr 1997 wird der organisierte Sport mit einer Pilotstudie zum Thema Gewalt gegen Mädchen und Frauen im Sport konfrontiert (vgl. Klein/Palzkill 1998). Das Ergebnis: Auch im Sport wird Gewalt gegen Mädchen und Frauen ausgeübt. Gründe dafür sind unter anderem Körperzentrierung, Männerdominanz, Leistungs- und Konkurrenzprinzip sowie das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Athlet*innen und Trainer*innen. Der Landessportbund NRW stößt daraufhin eine Präventionskampagne an, um Vereine und Verbände zu sensibilisieren. Bettina Rulofs, damals wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie und Genderforschung, und Prof.'in Dr. Ilse Hartmann-Tews, damalige Institutsleiterin, übernehmen die Evaluation. Sie wollen mithilfe einer Studie prüfen, ob die Kampagne ihre Ziele erreicht. „Wir haben damals qualitative Interviews mit Führungskraften aus Sportverbänden geführt, um zu erfahren, wie die Prävention von sexueller Gewalt in Sportverbanden konkret aussieht, zum Beispiel welche Schutzmaßnahmen bereits eingeführt wurden. Außerdem wollten wir klären, wie hoch die Bereitschaft der Führungskräfte ist, Präventionsmaßnahmen gegen Gewalt zu implementieren und welche Hilfe sie dazu benötigen.“ Ihre Ergebnisse veröffentlicht Rulofs in der Publikation „Schweigen schützt die Falschen".
Die Studie stößt nicht überall auf Offenheit und Anerkennung - im Gegenteil: „Als ich vor 20 Jahren versucht habe, mit Vorträgen oder Fortbildungen in Vereinen über das Thema zu informieren, sind mir mitunter die Türen vor der Nase zugeschlagen worden. Die Haltung ,So was gibt es bei uns nicht! Bleibt uns weg mit diesem schmutzigen Thema' war weit verbreitet", erinnert sich Rulofs und ergänzt: Die meisten Leute gehen davon aus, dass so etwas gerade im Sport nicht passiert.“ Dabei sei der Sport - ebenso wie andere Gesellschaftsbereiche - anfällig für Grenzüberschreitungen und auch mit systemischen Risiken verbunden. Im Jahr 2025 - also fast 30 Jahre nach der ersten Studie zu dem Thema - kann man durchaus erstaunt sein, dass immer wieder neue Fälle von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch im Sport an die Öffentlichkeit kommen. Zuletzt berichteten ehemalige Turnerinnen der Stützpunkte Stuttgart und Mannheim von psychischer Gewalt und Schikane durch eine Trainerin. Bettina Rulofs und ihre Kollegin Dr. Jeannine Ohlert, die sich als Sportpsychologin seit zehn Jahren im Forschungsfeld bewegt, überrascht das nicht. Sie sind eher enttäuscht. „Die Medien sind für betroffene Athlet*innen häufig die letzte Möglichkeit, um sich Gehör zu verschaffen. Sie gehen diesen Weg, weil sie sich von ihrem Verein, Stützpunkt oder Verband nicht gehört fühlen." Gleichzeitig würden die Fälle zeigen, dass immer mehr Menschen im Sport für Gewalt jeglicher Art sensibilisiert sind und auch mehr darüber wissen. Die Tatsache, dass zuletzt meist ehemalige Athlet*innen über Gewalt berichteten, sei ebenfalls bezeichnend, sagt Jeannine Ohlert: „Das ist auch eine Erkenntnis unserer Forschung, dass Athlet*innen häufig erst in der Rückschau verstehen, was da genau passiert ist in ihrer aktiven Zeit.“ Für viele Aktive seien gerade psychische Gewalt oder Machtmissbrauch schwer zu greifen, wenn sie noch mitten in der Situation stecken.

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Aufbau des Safe Sport Zentrums

Umso mehr Argumente gibt es laut der beiden Forscherinnen für das geplante Zentrum für Safe Sport, das sportpolitisch bereits auf den Weg gebracht wurde. „Es muss eine Clearingstelle geben, an die sich Betroffene wenden können, die dann aber auch die Chance hat, in den Verbandsstrukturen systematisch aufzuarbeiten“, fordert Rulofs, die im Stakeholderprozess des Bundesinnenministeriums für den Aufbau des Safe Sport-Zentrums beratend mitgewirkt hat. Intervention, Untersuchung und Aufarbeitung von Verdachtsfällen - genau diese Schwerpunkte soll das Zentrum für Safe Sport haben. Dass das Zentrum tatsächlich aufgebaut wird und bald an den Start gehen kann, das hoffen die Wissenschaftlerinnen weiterhin. Das BMI hat einen Beratungsprozess moderiert, der in eine Roadmap zum Aufbau des Zentrums für Safe Sport mündete“, erklärt Bettina Rulofs. „Nun wird sich zeigen, wie die neue Bundesregierung die strategischen Planungen aufgreifen und konkret umsetzen wird.“

"Jeder Verein soll ein sicherer Ort sein"

Seit ihren Forschungsanfängen 2004 habe sich die Haltung im Sport zu sexualisierter und interpersonaler Gewalt verändert - „sehr zum Positiven“, findet Rulofs. „Mit unseren Studien haben wir dazu beigetragen, Gewalt und Machtmissbrauch im Sport aufzudecken; wir haben die Evidenz dafür geliefert, dass auch der Sport dort ein Problem hat. Das war echte Pionierarbeit. Wir konnten zur Enttabuisierung des Themas beitragen. Das ist mittlerweile in den Sportverbänden angekommen und das zu sehen, motiviert uns. Und ich bin zuversichtlich, dass sich noch mehr bewegen lässt.“ Der Transfer in die Praxis, die knapp 90.000 Sportvereine in Deutschland zu erreichen, ist jetzt das Ziel. Dazu stellen die Forscherinnen Wissen und Materialien bereit. „Jeder Verein soll ein sicherer Ort sein“, betont Rulofs. Das Portfolio umfasst Schulungen für Athlet*innen, für Trainer*innen, für Funktionär*innen, für ehrenamtlich Tätige, für Eltern. In einem Projekt für den DOSB arbeiten die Forscherinnen aktuell gezielt heraus, welche die besonders riskanten Strukturen im Leistungssport in Deutschland sind, die Gewalt und Machtmissbrauch bedingen können. Im Ergebnis wird eine Risikoanalyse entstehen, die Empfehlungen für Trainer*innen und Verbände im Leistungssport enthält.

Aufarbeitungskommission im Schwimmsport

Mehrere Spoho-Wissenschaftler*innen waren auch Teil einer Aufarbeitungskommission im Schwimmsport, die große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erzielt hat. Nach der Ausstrahlung der ARD-Dokumentation „Missbraucht - Sexualisierte Gewalt im deutschen Schwimmsport“ hatte der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) die Kommission eingesetzt mit dem Ziel, die in dem Film dargestellten Sachverhalte, darunter auch der Fall des früheren Wasserspringers Jan Hempel, aufzuarbeiten und dem Vorstand des DSV Empfehlungen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt zu geben. Bettina Rulofs berichtet von einem für sie wichtigen Ergebnis: „Den Schutz im Schwimmsport zu erhöhen, hat der DSV jetzt nach der Veröffentlichung unserer Ergebnisse ganz oben aufgehängt. Ich war bei einer Sitzung mit dem Verbandspräsidenten und vielen anderen Funktionären dabei. In der Runde war auch eine betroffene Person, die wir in der Aufarbeitung angehört hatten. Diese Person und ihre Erfahrungen sollen nun in den Prozess einbezogen werden und es ist wichtig, dass jetzt Verbandspräsidenten mit Betroffenen sprechen und beide Seiten bereit sind, sich gegenseitig zuzuhören“, sagt Rulofs. Zuhören ist im Kontext von sexualisierter Gewalt nie einfach. Die Schilderungen von Betroffenen sind meist verstörend und machen sprachlos. Das macht auch die Arbeit für die Forscher*innen oft schwer. „Vor allem die Arbeit mit Betroffenen geht sehr an die Substanz. Das war für mich als Projektleiterin nicht immer einfach, weil ich auch dem Team viel zumute. Daher sind der Austausch innerhalb des Teams und eine externe Supervision hoch bedeutsam und oft hilfreich“, betont Rulofs.

Aus einzelnen Biografien Muster erkennen

Neben quantitativen Erhebungsverfahren ist gerade die Aufarbeitung von Fällen für die Forschung sehr wichtig. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs untersucht seit 2016 Ausmaß, Art und Folgen der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Seit 2019 widmet sich die Kommission auch dem Sport. Die Erfahrungen der Betroffenen, mitgeteilt in schriftlichen Berichten oder vertraulichen Interviews, wurden ab Dezember 2020 im Rahmen einer Studie systematisch ausgewertet. Dazu analysierten Bettina Rulofs und ihr Team 70 Berichte von Betroffenen. „Erstmal steht jeder Fall für sich. Aber wenn wir alle Fälle nebeneinanderlegen, dann erkennen wir gemeinsame Muster und können sie systematisch beschreiben. Auf diese Weise konnten wir Schwachstellen im Sportsystem identifizieren, die Risiken für Kindesmissbrauch bergen. Und wir konnten einheitliche Merkmale bei Tatpersonen identifizieren, also wie sie sich verhalten und wie sie vorgehen. Aus dieser Form der Aufarbeitung können wir relevantes Wissen generieren, das für die Entwicklung von Schutzmaßnahmen wichtig ist.“

An der Praxis orientierte, kooperative Forschung

Wichtig ist den Spoho-Wissenschaftler*innen praxisorientierte Forschung zu betreiben, die differenziert und kooperativ vorgeht. Durch die langjährige Expertise und die vielen Projekte bekommen sie mit, was den organisierten Sport und seine Akteure und Akteurinnen beschäftigt. Zudem wurden gezielt Kooperationen mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen aufgebaut, zum Beispiel mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Ulm. In künftigen Forschungsprojekten möchten sich Rulofs und Ohlert noch stärker auf die Bedingungen des Positiven konzentrieren, zum Beispiel noch konkreter der Frage nachgehen, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit sich sowohl die Leistungen von jungen Sportler*innen langfristig positiv entwickeln und gleichzeitig der Schutz vor Gewalt und Missbrauch gewährleistet wird. Ein weiterer Fokus soll auf dem Schulsport liegen. Am Zentrum für Sportlehrer*innenbildung der Spoho führt Dr. Jeannine Ohlert aktuell eine Pilotstudie im Schulsport durch, deren Ziel es ist, erstmalig Zahlen zu Erfahrungen interpersonaler Gewalt im Kontext Schulsport zu erheben. Wissenschaftler*innen der Spoho haben zudem eine Aufarbeitungsordnung erarbeitet, die die Ziele, Gegenstände und Zwecke der Aufarbeitung regelt. Und auch die Internationalisierung von Safe Sport treibt die Spoho voran. So werden eine Reihe von Wissenschaftler*innen am ersten „International Congress on Safe Sport Research“ im Juni in Kanada teilnehmen, unter anderem Professor Dr. Martin Nolte und Dr. Caroline Bechtel (Institut für Sportrecht), die dort den an der Spoho erarbeiteten Safe Sport Code präsentieren. Darüber hinaus ist eine Kooperation mit Taiwan in Arbeit, dem ersten asiatischen Staat, der Interesse an der Übernahme und Implementierung des Safe Sport Codes hat. Die Spoho bleibt also weiter dran am Thema.