CSI in Müngersdorf ...?

BIOMECHANIK, SUBSTANTIV, FEMININ; Teilgebiet der Biophysik, das sich mit den mechanischen Vorgängen in den Organismen befasst, sagt der Duden. Und auf Wikipedia ist zu lesen: Die Biomechanik ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die den Bewegungsapparat biologischer Systeme und die mit ihm erzeugten Bewegungen unter Verwendung der Begriffe, Methoden und Gesetzmäßigkeiten der Mechanik beschreibt, untersucht und beurteilt. Die Biomechanik beschäftigt sich also mit Kräften, die auf und in biologische(n) Systeme(n) wirken.

Ziel des Instituts für Biomechanik und Orthopädie ist es, Beiträge zu grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung in Bezug auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit des neuromuskuloskelettalen Systems des Menschen zu leisten, so steht es auf der Homepage des Instituts.Hier leitet Professor Dr. Wolfgang Potthast die Abteilung Klinische und Technologische Biomechanik. Diese spezielle Disziplin der Biomechanik untersucht die Wechselbeziehungen zwischen Bewegung und Belastung des Bewegungsapparates eines menschlichen Körpers auf makroskopischer Ebene, um klinische, technologische und trainingsbezogene Interventionen zu optimieren. Es geht also um die Verbesserung der sportlichen Leistung und der Bewegungsqualität, es geht um die Vermeidung von Verletzungen des Bewegungsapparates im Alltag, im Sport und am Arbeitsplatz sowie um die Optimierung und Beschleunigung von Rehabilitationsprozessen. Oder, wie Biomechaniker Wolfgang Potthast es formuliert: „Es geht darum, Usain Bolt schneller laufen zu lassen oder meine Mutter nach einem Oberschenkelhalsbruch schneller wieder auf die eigenen Beine zu bringen.“ Wolfgang Potthast hat Sport und Physik studiert, da ist der Weg in die Biomechanik nicht weit. Dennoch ist es eher Zufall und eine Idee seines Fußball-Dozenten, dass Potthast den wissenschaftlichen Karriereweg einschlägt: „Unser Dozent Gerd Merheim, damals parallel als Kaderplaner für den MSV Duisburg in der Bundesliga tätig, war auf der Suche nach einem Mess-Aufbau, mit dem man lineare Sprints mit Richtungswechsel- Sprints vergleichen kann. Zu mir hat er gesagt: Wenn du das hinkriegst, besorge ich dir unsere Profis. Das war für mich Motivation genug.“ Als Diplomand im Institut von Professor Peter Brüggemann, damals noch Leiter des Instituts für Leichtathletik und Turnen, aber bereits interessiert an und involviert in biomechanische(n) Fragestellungen, entwickelt Potthast ein Studiendesign, das er mit den Duisburger Fußball-Profis umsetzen kann. „Die Studie war gut, ein bisschen stressig in der Umsetzung, und wir haben auch gute Ergebnisse rausgekriegt.“ Das fällt auch dem Institutsleiter auf, Wolfgang Potthast wird als Studentische Hilfskraft eingestellt und erhält die Möglichkeit zu promovieren. Nach der Promotion im Institut für Biomechanik (2005) übernimmt er 2010 eine Vertretungsprofessur für Bewegungswissenschaften und Biomechanik am KIT, Karlsruher Institut für Technologie, leitet das BioMotion-Center und schließt seine Habilitation ab. 2012 kehrt der gebürtige Sauerländer als Professor für klinische Biomechanik an die Deutsche Sporthochschule Köln zurück und leitet bis heute die Abteilung Klinische und Technologische Biomechanik.

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Aktuelle Forschung

Gefragt nach den aktuellen Forschungsprojekten seiner Abteilung nennt er an erster Stelle ein seit mehreren Jahren laufendes Projekt zusammen mit der TSG Hoffenheim: „Über einen langen Zeitraum hinweg verfolgen wir jetzt schon den Fußballnachwuchs der TSG; durch Bewegungsanalysen versuchen wir, Adduktorenverletzungen besser zu verstehen, um sie bestenfalls zukünftig verhindern zu können.“ Eng verbunden mit diesem Projekt ist eine weitere Studie, die sich mit Hamstringverletzungen befasst. Unter den Hamstrings versteht man die sogenannte Ischiocurale Muskulatur, also die drei Muskeln an der Oberschenkelrückseite. Die sog. Hamstring Injury gehört zu den häufigsten Sportverletzungen, vor allem im Mannschaftssport, deren Ursachen noch nicht abschließend geklärt sind. „Wenn bei diesen langkettigen Muskeln mit vielen seriell geschalteten kontraktilen Einheiten die intramuskuläre Abstimmung nicht gut funktioniert, dann muss irgendwo eine Schwachstelle sein. Und ich bin überzeugt davon, dass man diese intramuskuläre Koordination messtechnisch quantifizieren und identifizieren kann, da sind wir dran.“ Interessiert an diesem Thema sind auch einige Vereine, mit dem FC Chelsea gibt es erste Kontakte. Laufschuhforschung, die Optimierung von Operationsplanungen, Studien zu Prothesen im Behindertensport oder auch industrielle Projekte für den Radsport sind ebenfalls Themen, mit denen sich Potthasts Team beschäftigt.

Gutachtertätigkeiten

Ein weiteres, nicht ganz alltägliches Thema ist die forensische Biomechanik, auch wenn für den Abteilungsleiter der Begriff nicht passend ist: „Wir schauen nicht im Sinne von CSI Miami, wie oder mit welcher Waffe bestimmte Verletzungen zustande gekommen sind, haben also in der Regel eher nicht mit Straftaten zu tun. Bei uns geht es zum Beispiel darum, ob eine Verletzung passiert ist, weil in der Halle ein Beton- und kein Schwingboden war, oder ob ein Unfall hätte vermieden werden können.“ Es geht also eher um Gutachtertätigkeiten. So wie zum Beispiel vor 13 Jahren, als Potthasts früherer Chef Gert-Peter Brüggemann auf der Grundlage von Videomaterial und einer darauf basierenden Computersimulation ein Gutachten zum tragischen Unglück in der „Wetten, dass …?“-Sendung erstellt hat, mit dem Ziel Fremdverschulden nachzuweisen oder auszuschließen. Ähnlich in der Öffentlichkeit wie der „Wetten, dass …?“-Unfall steht auch Wolfgang Potthasts aktuelle Gutachtertätigkeit: „Im Februar 2022 wurde ich gefragt, ob ich ein Gutachten zur Frage der Identätswahrscheinlichkeit in Zusammenhang mit einer Automatensprengung erstellen könnte, das war zeitgleich mit dem Beginn des Drach-Prozesses.“ So kam der Stein ins Rollen (siehe Interview auf der linken Seite). Dieser Gutachteranfrage sind inzwischen weitere gefolgt, wenn auch nicht so prominent, immer mit dem Ziel, das Gericht bei der Urteilsfindung zu unterstützen. „Man kann jetzt nicht sagen, dass unsere Analysen bereits so etabliert sind wie DNA-Spuren oder ein Fingerabdruck, der eindeutig zugeordnet werden kann. Aber sie können dazu beitragen, einen Angeklagten zu belasten, aber auch zu entlasten.“ Das Agieren in diesem Umfeld fern der Wissenschaft ist herausfordernd für den Biomechaniker: „Das ist natürlich ganz anders als bei einem Kongress, wo Diskussionen inhaltlich und sachlich geführt werden. Damit musste ich erst mal lernen umzugehen. Da hilft es aber, wenn du inhaltlich sicher bist.“ Egal ob im Sport, bei Industrieprojekten oder vor Gericht, wichtig ist Professor Wolfgang Potthast ein angewandter Ansatz, der hilft, Fragen zu beantworten. Das kann zum Beispiel der paralympische Weitspringer Markus Rehm sein: Soll er mit Nichtbehinderten springen? Das kann bei der Stollenplatzierung im Rahmen industrieller Fußballschuhprojekte sein, oder, wie beim Hoffenheim-Projekt, die Frage, wie Verletzungen vermieden werden können. „Da bin ich nicht an einem kleinen Protein interessiert, sondern eher an der pragmatischen bzw. sehr angewandten Problemlösung. Deshalb macht mir das auch so viel Spaß, weil ich etwas mache, das wirklich Relevanz hat.“

Text: Sabine Maas