Interview
Thomas Drach wurde vom Landgericht Köln wegen Raubes und versuchten Mordes zu 15 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Der Prozess erstreckte sich über 100 Verhandlungstage. Prof. Dr. Wolfgang Potthast war als biomechanischer Gutachter an 16 Verhandlungstagen geladen.
Wie kam es dazu, dass Sie ein Gutachten für den Drach-Prozess erstellt haben?
Ich bekam im Oktober 2022 einen Anruf vom Landgericht Köln. Die Frage war, ob ich basierend auf Bewegungsanalysen von Überwachungs- und Observationsvideos etwas über Identitätswahrscheinlichkeiten zwischen Tatverdächtigen und Tätern aussagen könnte. So etwas hatte ich ja schonmal gemacht, wollte mir die Videos aber erst anschauen. Der Richter wies mich darauf hin, dass es ein heikler Fall sei. Da wusste ich, worum es geht. So kam der Stein Drach ins Rollen. Bevor ich mir die Videos richtig anschauen und zusagen konnte, stand schon in der Zeitung, dass ein Biomechaniker der Sporthochschule im Anflug ist.
Wieso haben Sie sich dazu entschieden, die Analyse zu machen?
Das ist eine gute Frage. Ich habe nicht sofort zugesagt. Das ist Arbeit, das ist Aufwand, das ist Stress. Viele hatten auch die Sorge, dass plötzlich irgendjemand vor meiner Tür steht, wenn ich etwas Falsches sage. Trotzdem habe ich natürlich ein bisschen darüber nachgedacht. Andererseits, warum nicht? Die Expertise dafür haben wir, keine Juristen. Wer soll so etwas machen, außer Fachleute, die sich mit Bewegungsanalysen auskennen. Davon gibt es nicht so viele. Und das Zweite und das meine ich wirklich ernst: Ich bin ja im öffentlichen Dienst tätig. Neben der grundsätzlichen Neugierde, die ich habe, war es irgendwie eine gesellschaftliche Verpflichtung für mich, das zu machen.
Was genau sollte überprüft werden?
Die grundsätzliche Frage war, ob man anhand der vorhandenen Videoausschnitte etwas über die Identitätswahrscheinlichkeit aussagen kann. Natürlich sind die Täter auf den Überwachungsvideos nicht zu erkennen. Sie sind vermummt, tragen Sonnenbrillen oder weite Kleidung. Es gibt zusätzlich Observationsvideos, die die Polizei gemacht hat. Da weiß man, das ist die verdächtigte Person. Und jetzt vergleicht man die Videos. Das kann man anhand der Körperproportionen machen, oder an Teilen des Gesichts. Das ist das Einsatzgebiet von forensischen Anthropolog*innen. Bei uns geht es dann schwerpunktmäßig um die Analyse der Bewegungen.
Wie sind Sie bei der Analyse vorgegangen?
Zuerst haben wir qualitativ beurteilt, welche Bewegungsauffälligkeiten Täter und Tatverdächtige gemein haben und welche nicht. Danach sind wir quantitativ vorgegangen, um mit Zahlen zu arbeiten. Zwei Personen, die ein bestimmtes Bewegungsmerkmal haben, müssen nicht identische Personen sein. Man muss dann überprüfen, wie viele Menschen es überhaupt mit diesem Bewegungsmerkmal gibt. Dafür konnten wir auf unsere Datenbanken und auf Literaturdaten zurückgreifen. Das war schon sehr aufwendig. Wir haben einige Merkmale gefunden, die wirklich selten sind, aber bei beiden Personen in den Videos auftreten.
Wie sicher sind die Ergebnisse?
Es gibt keine Merkmale, die sich widersprechen. Es ist auch wichtig, dass es keine Ausschlusskriterien gibt. Aus den übereinstimmenden Merkmalen lässt sich die Identitätswahrscheinlichkeit aber nicht eindeutig quantifizieren. Ich kann nicht sagen, dass das mit 98 % Wahrscheinlichkeit dieselbe Person ist. Aber es wäre schon ein großer Zufall, wenn nicht. So habe ich das auch formuliert.
Wie präsentiert man solche Ergebnisse vor Gericht?
Es gibt schriftliche oder mündliche Gutachten. So ein schriftlicher Bericht, das dauert. Das schreibe ich nicht mal eben in einer halben Stunde. Da ein gewisser Zeitdruck vorlag, habe ich ein mündliches Gutachten erstellt und als PowerPoint-Präsentation im Gerichtssaal vorgeführt.
Wie lange kann man sich so einen Verhandlungstag vorstellen?
Meistens ging es um 9:15 Uhr los, und ich war nicht selten erst um 17 Uhr raus. Es war aber nicht immer so, dass ich tatsächlich acht Stunden befragt wurde.
Wie war die Atmosphäre im Gerichtssaal?
Die Atmosphäre war sehr aufgeladen. Man muss dazu sagen, dass es am Anfang zwei Angeklagte gab. Beide hatten zwei Pflichtverteidiger, die auch alle ständig Fragen stellen durften. Und das haben sie auch gemacht. Also ausreden lassen, das war da ein Luxus.
Was war für Sie das Überraschendste innerhalb der 16 Verhandlungstage?
Es war nicht das erste Mal, dass ich bei Gericht war. Aber es war das erste Mal, dass ich einen solch konfrontativen Umgang von Verteidigern und Gericht erlebt habe, der wirklich so war wie im Fernsehen. Es wurde laut, viele Umgangsformen, die ich aus dem täglichen Leben kenne, wurden verlassen, und es gab Aussagen deutlich unter der Gürtellinie. Damit umzugehen, das war das Schwierigste. Die Art der Diskussion war eine andere als die im akademischen Kontext. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich eine gewisse Gelassenheit dafür entwickelt habe.
Interview: Mona Laufs
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