Rektor-Interview

„Der Sport muss einen höheren Stellenwert bekommen"

Professor Ansgar Thiel (60) leitet seit dem 20. Mai die Geschicke der Deutschen Sporthochschule Köln. Was er sich für seine sechsjährige Amtszeit als Rektor vorgenommen hat, warum er gerne im Studierendenwohnheim auf dem Campus lebt und wie die Sportwissenschaft bei der Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme helfen kann, erzählt er uns im Interview.

Herr Thiel, Sie sind, Stand heute bei unserem Gespräch, seit 81 Tagen im Amt. Wie ist Ihr Fazit bislang?
Das ist tatsächlich noch eine relativ kurze Zeit. Im Moment treffen wir uns extrem viel mit dem Rektorat, ich lerne immer noch die Institute und die Verwaltung kennen und führe sehr viele Gespräche. Von daher ist jeder Tag absolut gefüllt. Mein Fazit ist: Das ist eine tolle Universität, an der ich jetzt arbeiten darf. Hier arbeiten sehr motivierte Menschen, die auch gerne bereit sind, den Entwicklungsprozess mit zu unterstützen, sodass wir die Herausforderungen, denen sich eine Universität heutzutage stellen muss, möglichst optimal bewältigen können. Die Menschen hier an der Spoho fühlen sich mit ihrer Universität stark verbunden. Das Commitment ist wahnsinnig groß. Von daher bin ich richtig froh, hier zu sein und den Job als Rektor machen zu dürfen.

Hätten Sie als Heranwachsender gedacht, dass Sie einmal Rektor einer Uni werden würden?
Nein. Als Teenager habe ich mir relativ wenig Gedanken darüber gemacht, was ich später einmal werden will. Vielleicht Musiker.

Was raten Sie jungen Menschen, um ihren Weg zu finden?
Ich glaube, es ist wichtig, zu wissen, für was man brennen kann. Die Gesellschaft verändert sich in einer rasanten Geschwindigkeit. Man darf sich nicht darauf verlassen, dass man eine Ausbildung absolviert, die dann für das gesamte Leben gilt. Man muss sich immer wieder neu erfinden und bereit sein, das gesamte Leben lang zu lernen. Und deswegen ist die Lust am Lernen so wichtig. Neue Dinge auszuprobieren, eigene Grenzen zu überwinden, zu scheitern – das ist kein Vergnügen. Aber wenn man Freude am Weiterkommen entwickelt, dann ist eine gute Grundvoraussetzung geschaffen.

Sie sagen von sich selbst, dass Sie durch und durch Sportwissenschaftler sind. Warum fasziniert Sie das Fach?
Weil die Sportwissenschaft Generalisten ausbildet. Wenn man Sportwissenschaft studiert, dann lernt man naturwissenschaftliche Inhalte, medizinische, psychologische, soziologische, biomechanische … ich könnte die Liste noch weiter fortführen. Gleichzeitig ist der Bezug zur Praxis so groß wie in kaum einem anderen Fach. Wir können wissenschaftliche Grundlagen direkt in die Praxis übersetzen. Diesen Anwendungsbezug und diese Vielfältigkeit finde ich absolut faszinierend.

Gerade das bereitet aber auch vielen Sportstudierenden Sorgen. Im Gegensatz zu anderen Studiengängen, wie zum Beispiel Jura oder Zahnmedizin, führt die Sportwissenschaft nicht auf ein klar umgrenztes Berufsfeld hin.
Dadurch eröffnet sie aber auch sehr viele Möglichkeiten. Angesichts der rasanten Entwicklung, die sich im Moment im Bereich der KI andeutet, wird sich die Berufswelt massiv verändern. In einer zunehmend automatisierten, digitalisierten und individualisierten Gesellschaft wird die Bedeutung von Sport und Bewegung umso größer. Einerseits als Medium der Gesunderhaltung, andererseits als Setting, in dem soziale Interaktion stattfinden kann. Wir brauchen Expertinnen und Experten, die Lebenswelten gestalten, die dazu beitragen, Bewegung in den Alltag zu integrieren. Wir brauchen Fachleute, die Sport und Bewegung als Medium der Prävention und der Rehabilitation vermitteln. Man braucht uns mehr denn je. Daher sehe ich die Zukunft der Sportwissenschaft nicht schwarz, sondern eher rosig.

Sie haben in Ihrer Antrittsrede bereits ein breites Konzept von Maßnahmenfeldern Ihrer zukünftigen Rektoratspolitik vorgestellt. Welches ist Ihnen das wichtigste?
Mir ist das Allerwichtigste, dass wir die Bedeutung von Sport und Bewegung für eine funktionierende Gesellschaft noch sichtbarer machen. Sport kann eine Antwort auf gesamtgesellschaftliche Probleme sein. Wir werden das Pro­blem der demografischen Alterung nicht in den Griff bekommen, wenn wir nicht versuchen, Menschen biopsychosozial gesund zu halten. Wir werden nichts gegen Einsamkeit ausrichten können, wenn wir keine Räume schaffen, die Menschen miteinander in Kontakt bringen. Und zwar vor allem unter körperlicher Anwesenheit, wo sie sich berühren können, wo sie sich sehen können, wo sie miteinander reden können, wo sie miteinander spielen können. Eine ganz entscheidende Rolle spielt hier auch die Integration in funktionierende Netzwerke, beispielsweise für Menschen mit einem Fluchthintergrund. Bei der Bewältigung dieser und anderer Probleme muss der Sport einen höheren Stellenwert bekommen. Er muss noch mehr in den Blick von Politik, Öffentlichkeit und anderen gesellschaftlichen Institutionen rücken.

Welchen Beitrag kann unsere Hochschule dazu leisten?
Unsere Hochschule hat zunächst zwei Hauptaufgaben: Forschung und Lehre. Wobei ich die Lehre nicht nachgestellt sehe, sondern auf gleicher Ebene. Wir bilden Menschen aus, die gebraucht werden – in der Politik, in der Öffentlichkeit, in den Schulen, in den Vereinen, in der Therapie, in der Wissenschaft. Das ist das eine: Eine gute Ausbildung, die auf aktuelle gesellschaftliche Veränderungen reagiert. Das andere ist die Forschung: Wir liefern Erkenntnisse, und zwar in unterschiedlichen Bereichen, von der molekularen Medizin, der Biochemie bis hin zur Didaktik, unter welchen Bedingungen sportliche und körperliche Aktivität zu positiven Effekten für das Individuum und für die Gesellschaft führen kann. Der dritte Pfeiler, der sich zwingend anschließt, ist der Transfer. Also die Frage, wie wir die Erkenntnisse in die Gesellschaft überführen können. Das ist leider kein Selbstläufer. Es gibt immer mehr Bereiche, in denen Wissen vermittelt wird, das nicht empirisch abgesichert ist. Da gibt es keine einfache Lösung.

Sie sind zu einer schwierigen Zeit an die Sporthochschule gekommen, die sehr von Sparmaßnahmen geprägt ist. Was bedeuten diese für die ​Hochschule?
Unter den Sparmaßnahmen, die getroffen werden mussten, leiden alle Bereiche gleichermaßen: die Mitarbeitenden in der Forschung ebenso wie die aus Lehre und Verwaltung. Wir sind jetzt an einem Punkt angekommen, an dem wir meines Erachtens nach kaum mehr etwas einsparen können. Wir müssen eher darüber nachdenken, woher wir zusätzliche Mittel beziehen können. Das heißt, wir müssen in Zeiten des Sparens Kapazitäten darauf verwenden, wie wir an Geld kommen. Das ist natürlich ein Paradox, aber unsere einzige Möglichkeit. Um weiter auf höchstem Niveau operieren zu können, erarbeiten wir derzeit einen Maßnahmenkatalog. Dazu gehören die Beteiligung an Ausschreibungen, das Akquirieren von Stiftungsprofessuren, das aktive Anbieten von Dienstleistungen und einiges mehr. Das haben wir in der Vergangenheit natürlich auch schon gemacht, aber jetzt rückt es unnachgiebig in den Fokus.

Mit der neuen Position haben Sie auch Ihren Lebensmittelpunkt von Tübingen nach Köln verlegt. Was reizt Sie an der Stadt und der Region?
Noch ist er erst in Teilen verlegt. Meine Frau und mein Sohn sind noch in Tübingen und kommen nach, sobald mein Sohn nächstes Jahr sein Abitur gemacht hat. Aktuell fahre ich montags mit dem Zug von Tübingen nach Köln und donnerstagabends zurück. Freitags bin ich im Homeoffice. Köln ist für mich eine der attraktivsten Städte in Deutschland, daher fiel die Entscheidung nicht schwer. Ausschlaggebend war natürlich die Spoho. Die einzige Sportuniversität in Deutschland als Rektor leiten zu dürfen, ist eine schöne Herausforderung.

Sie wohnen in einem unserer Wohnheime auf dem Campus, auf 20 Quadratmetern, und finden das richtig gut. Warum?
Ich konzentriere mich aktuell voll und ganz auf meine Aufgabe als Rektor und da genieße ich es sehr, dass ich nur einen Katzensprung entfernt von meinem Büro wohne. So verliere ich keine Zeit. Außerdem trägt es zur Verbundenheit bei. Ich komme nicht aus Köln, habe nicht hier studiert und fühle mich doch schon sehr heimisch. Ich genieße es sehr, morgens ins Grüne zu treten und durch die Bäume zu spazieren. Wir haben einen ausgesprochen schönen Campus.

Neben Bett, Schrank und Schreibtisch beherbergt Ihr Apartment einen Hometrainer und eine Trompete …
Ja, das brauche ich zum Ausgleich. Morgens bringe ich auf dem Fahrradtrainer meinen Kreislauf in Schwung. Abends spiele ich Trompete, um den Kopf frei zu bekommen. Das ist für mich wie Meditation. Da kann ich mich richtig verlieren.

Wenn Sie sich selbst mit drei Adjektiven beschreiben müssten, welche wären das?
Puh … Ich würde sagen, dass ich wissbegierig bin, ein bisschen unruhig und zugewandt. Zumindest nehme ich mir vor, das zu sein. Beurteilen müssen das andere.

Interview: Lena Overbeck

Zur Person
  • Univ.-Prof. Dr. phil. Ansgar Thiel studierte Sportwissenschaft, Psychologie und Psychogerontologie an den Universitäten Tübingen und Erlangen-Nürnberg. Er promovierte (1996) und habilitierte (2000) an der Universität Bielefeld. Nach einer Professur für Sportsoziologie an der Technischen Universität Chemnitz übernahm er 2004 eine Professur für Sozial- und Gesundheitswissenschaften am Institut für Sportwissenschaft der Universität Tübingen. Dort war er zwölf Jahre Direktor des Instituts für Sportwissenschaft und seit 2022 hauptamtlicher Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Seit Mai 2024 ist er Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln.
  • Ansgar Thiel ist verheiratet und hat drei Kinder. Maryse (24) studiert Zahnmedizin in Aachen, Franca (22) studiert Medizin in Tübingen und Xaver (17) geht in die Oberstufe und will dann auch Zahnmedizin studieren. Woher die Begeisterung seiner Kinder für Zähne kommt, kann er sich auch nicht erklären. Seine Frau Syra ist PR-Journalistin.
  • Der gebürtige Baden-Württemberger liebt Musik – vor allem Jazz und Funk. Er hat viele Jahre in einer Band gespielt.
  • Thiel hat einen Zukunftsthriller geschrieben, der 2021 im Gmeiner-Verlag erschienen ist; er heißt „Network“ und umfasst 505 Seiten.