Digitale Lehr-Lern-Praktiken und ihre Subjekte

Alexandra Janetzko

ZUSAMMENFASSUNG

Pandemiebedingt hat die Digitalisierung auch im Kontext von Lehr-Lern-Praktiken im Fach Sport an Schulen Fahrt aufgenommen. Damit steigt auch die Bedeutsamkeit von digitalen Kompetenzen für die Sportlehrer*innenbildung. Im zweisemestrigen Projektseminar „Digitale Lehr-Lern-Praktiken und ihre Subjekte“ setzen sich die Studierenden aus einer praxis- und subjektivierungstheoretischen Perspektive mit digitalen Formaten auseinander, reflektieren auf die Effekte verschiedener digitaler Formate auf die Lernenden und erweitern ihre digitalen Kompetenzen. Aus der theoretischen Perspektive werden digitale Technologien wie bspw. Online-(Lern-)Plattformen und virtuelle Räume nicht als bloße Träger von Inhalten, sondern als konstitutiv für die Interaktion und Subjektivierung und damit als aktive Vermittler in den Praktiken angesehen. Diesen Aspekten nähern sich die angehenden Sportlehrkräfte autoethnografisch an. Hierbei nehmen sie die Lernendenposition ein und untersuchen, wie sich bspw. die verschiedenen Interaktionsmöglichkeiten in den jeweiligen digitalen Formaten auf sie auswirken. Die Ergebnisse präsentieren die Studierenden in asynchronen, ihnen bis dahin wenig vertrauten digitalen Formaten, um ihre Kompetenzen auf diesem Gebiet zu erweitern. Basierend auf diesen Erkenntnissen konzipieren die Studierenden im zweiten Semester eigene digitale Sportunterrichtseinheiten, die im Seminar gemeinsam ausprobiert und reflektiert werden.

1. EINLEITUNG UND PROBLEMSTELLUNG

2019 wurden auf der Kultusministerkonferenz (2019a, S. 13) Empfehlungen zur Digitalisierung in der Hochschullehre festgehalten, in denen „Medienkompetenz und fachspezifische digitale Kompetenzen als Qualitätskriterium für Studiengänge“ angesehen werden:

Da Bildung in der digitalen Welt als Daueraufgabe zu verstehen ist, gilt dies in besonderer Weise für Lehramtsstudiengänge, deren Ziel es ist, Lehrkräfte mit den für die Heranführung von Schülerinnen und Schülern an das Leben in der digitalen Welt erforderlichen Kompetenzen auszustatten. (ebd.)

Hinsichtlich sportwissenschaftlicher Lehramtsstudiengänge wird der Anspruch formuliert, „Entwicklungen im Bereich Digitalisierung aus fachlicher und fachdidaktischer Sicht angemessen zu rezipieren sowie Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung kritisch zu reflektieren.“ (Kultusministerkonferenz 2019b, S. 61). Die Bedeutsamkeit dieser Kompetenzen hat sich im Zuge der andauernden Pandemie und des damit einhergehenden Übergangs zu Fernunterricht an Schulen enorm verstärkt. Daraus erwächst auch ein erhöhter Anspruch an die universitäre (Sport-)Lehrer*innenbildung, die sich selbst pandemiebedingt mit Herausforderungen bei der Umstellung auf digitale Lehre konfrontiert sieht (vgl. Mierau, 2020), Studierende (noch) besser hinsichtlich digitaler Kompetenzen und ihrer Möglichkeiten und Grenzen auszubilden. 2017 wurden auf der Kultusministerkonferenz (S. 15ff.) die digitalen Kompetenzen in sechs Kompetenzbereiche unterteilt, zu deren Ausbildung „jedes einzelne Fach mit seinen spezifischen Zugängen zur digitalen Welt seinen Beitrag“ leisten soll: 1. Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren; 2. Kommunizieren und Kooperieren; 3. Produzieren und Präsentieren; 4. Schützen und sicher Agieren; 5. Problemlösen und Handeln; 6. Analysieren und Reflektieren.

Wie die Gesellschaft für Fachdidaktik (2018) hervorhebt, reicht für die Ausbildung dieser Kompetenzbereiche nicht allein die Verwendung digitaler Technologien  in der Lehramtsausbildung, sondern es bedarf eines didaktisch reflektierten Einsatzes digitaler Medien unter Berücksichtigung fachwissenschaftlicher Theorien, um „die Entwicklung einer Fähigkeit zur fachkundigen und verantwortungsvollen Nutzung und Entwicklung von digitalen Medien“ (Fischer & Paul, 2020, S. 4) bei angehenden Sportlehrkräften zu fördern. Der vorliegende Beitrag stellt ein zweisemestriges forschungsorientiertes Projektseminar (Master) vor, welches dieses Ziel verfolgt und den Studierenden eine praxis- und subjektivierungstheoretische Perspektive auf digitale Lehr-Lern-Praktiken vermittelt. Zunächst wird die theoretische Perspektivierung vorgestellt, bevor im Anschluss auf den Aufbau und die Zielsetzung eingegangen wird. Eine Darstellung der Erkenntnisse und ein kurzer Ausblick bilden den Abschluss des Werkstattberichts.

THEORETISCHER HINTERGRUND: (RE-)ADRESSIERUNG IN SOZIO-MATERIELLEN ARRANGEMENTS UND IHRE SUBJEKTIVIERUNGSEFFEKTE

Bezugnehmend auf die praxistheoretische Untersuchung von Unterricht von den (Sport-)Soziologen Pille und Alkemeyer (2016) bilden sich (Schul-)Subjekte in spezifischen sozio-materiellen Arrangements (Schatzki, 2002, S. 38ff.) aus. Diese bestehen aus menschlichen Körpern, die je nach Unterrichtsfach an Tischen und Stühlen positioniert sind bzw. sich in Figurationen in Sporthallen unter Einbezug von Materialitäten wie bspw. Bällen und Spielfeldmarkierungen bewegen. Die Materialitäten und Positionierungen werden aus praxistheoretischer Sicht als bedeutsam für die sich vollziehende Praxis angesehen. So legt bspw. die Ausrichtung von Tischen nach vorne zur Tafel an dem die Lehrkraft positioniert ist eher Frontalunterricht nah, während ein Stuhlkreis in dem sich alle Teilnehmenden anblicken oder zu Gruppen positionierte Tische andere Interaktions- und damit auch Vollzugsformen der Lehr-Lern-Praktiken anbieten (vgl. Pille & Alkemeyer, 2016, S. 176ff.). Auch was jeweils als ‚Leistung‘ auf Lernendenseite erbracht werden soll, wird von der jeweiligen sozio-materiellen Anordnung beeinflusst. So zeichnet sich eine gute Leistung im Frontalunterricht durch leise sein und der Lehrkraft zuhören aus, während in Gruppenarbeiten eine Diskussion mit den Gruppenmitgliedern ohne Einbezug der Lehrkraft vorgesehen ist (vgl. ebd.). Welche Vollzugsformen in den jeweiligen Praktiken und Positionen adäquat sind und damit auch, was jeweils als ‚Leistung‘ konstruiert wird (vgl. Ricken, 2018) signalisieren sich die Beteiligten durch gegenseitige Bezugnahmen aufeinander und stellen so ein gemeinsames praktisches Verständnis darüber her. Diese Bezugnahmen bezeichne ich in Anlehnung an die Erziehungswissenschaftler*innen Reh und Ricken (2012) als (Re-)Adressierungen. Diese beinhalten nicht nur Sprechakte wie Fragen, Antworten, Kommentare oder Zurechtweisungen, sondern können auch in Form von Blicken, Gesten oder einer Ausrichtung der Körper zueinander oder eines demonstrativen Wegdrehens erfolgen (vgl. ebd., S. 43). Damit lernen die Teilnehmenden durch (Re-)Adressierungen nach und nach, welche (Anschluss-)Handlungen von ihnen erwartet werden aber auch, welche (Subjekt-)Position sie innerhalb des Gefüges einnehmen. Denn über (Re-)Adressierungen setzen sich die Teilnehmenden auch ins Verhältnis zueinander und werden zu spezifischen Subjekten (von anderen gemacht) (vgl. Ricken, 2013, S. 96). Wie einige empirische Untersuchungen von schulischen Lehr-Lern-Praktiken eingehend zeigen, weisen Lehrkräfte Schüler*innen durch Adressierungen mit Blick auf die jeweilige Leistung verschiedene Subjektpositionen zu wie bspw. die des „Kreativen“, „Langsamen“ oder „Hilfsbedürftigen“ (Rabenstein & Reh,  2013) oder des „Experten“ oder „Parodisten“ (Pille & Alkemeyer, 2016, S. 184ff.). Die Einnahme dieser Positionen durch die Schüler*innen erfolgt nicht durch einmalige sondern sich wiederholende (Re-)Adressierungen, durch die die Subjektpositionen gefestigt werden. Die sich in den spezifischen sozio-materiellen Arrangements vollziehenden (Re-)Adressierungen sind damit essenziell für die Subjektivierungseffekte in den jeweiligen Lehr-Lern-Praktiken. Welche Veränderungen treten nun ein, wenn Lehr-Lern-Praktiken nicht mehr wie gewohnt in Kopräsenz in Klassenzimmern oder Turnhallen stattfinden, sondern in asynchrone Formate überführt und/oder in virtuelle Räume verlagert werden, denen sich die Teilnehmenden per Kamera und Mikrofon vom heimischen Schreibtisch aus zuschalten? Für diese Veränderungen sollen die angehenden Sportlehrkräfte im forschungsorientierten Projektseminar sensibilisiert werden, um diese Aspekte bei der anschließenden Planung von digitalen Sportunterrichtseinheiten zu berücksichtigen.

3. INHALT UND ZIELSETZUNG DES FORSCHUNGSORIENTIERTEN PROJEKTSEMINARS

Das zweisemestrige Projektseminar „Digitale Lehr-Lern-Praktiken und ihre Subjekte“ ist eingebettet in ein sportdidaktisches ‚Lern-Labor‘, welches den Ansatz des forschungsorientierten Lernens (Fichten, 2017) verfolgt. In dem ‚Labor‘ sollen Sportstudierende an konkreten Problemstellungen des Unterrichtens Forschungsperspektiven entwickeln und bearbeiten. Den Laborcharakter zeichnet aus, dass

 keine routinierten, praxisbewährten Bewältigungsstrategien des Unterrichtens vermittelt werden, sondern Studienbedingungen vorherrschen, die es Studierenden ermöglichen, sich neugierig, geduldig und immer wieder forschend-distanziert dem Verstehen der Strukturlogik des Unterrichts […] in einer forschenden Haltung anzunähern (Schierz, 2019, S. 66).

3.1 Erstes Semester

Durch die pandemiebedingte Umstellung an (Hoch-)Schulen auf digitale Formate bot sich die wissenschaftliche Beleuchtung der zum Großteil neu entstandenen Lehr-Lern-Praktiken im Sportkontext als zentraler Gegenstand des Projektseminars an. Die unter Punkt 2 skizzierte theoretische Perspektivierung, die als ‚Analysebrille‘ herangezogen wurde, resultiert aus der institutionellen Verortung der Sportlehrer*innenausbildung in einer Fakultät für Human- und Gesellschaftswissenschaften, die unter anderem den Schwerpunkt: „Praktiken, Subjektivierung, Bildungs-Wege“ aufweist. In einem ersten Schritt erfolgte eine gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Stand der Forschung zu digitalen Lehr-Lern-Praktiken im Kontext von (Hoch-)Schule (vgl. bspw. Eickelmann & Gerick, 2020; Greve et al., 2020; Mierau, 2020). Des Weiteren wurde die theoretische Perspektivierung gemeinsam erarbeitet und die Methode der Autoethnografie eingeführt. Im Anschluss erarbeiteten die Studierenden eigenständig Forschungsfragen, denen sie in autoethnografischen Untersuchungen von selbstgewählten digitalen Lehr-Lern-Praktiken nachgingen. Die Forschungsfragen bezogen sich zusammenfassend auf die jeweiligen Leistungskonstruktionen und (Re-)Adressierungsmöglichkeiten innerhalb der digitalen Lehr-Lern-Praktiken und die damit einhergehenden Subjektivierungseffekte auf die Studierenden in ihrer Lernendenposition. Bspw. untersuchte ein Student die genauen Adressierungen und ihre Subjektivierungseffekte in einem asynchronen, digitalen ‚Gesundheitscoaching‘ einer Krankenkasse. Eine Studentin verglich die Subjektivierungseffekte zweier digitaler Sportangebote bei denen ihre Vorerfahrungen stark variierten. Eine andere Studentin ging der Frage nach, inwiefern die (Re-)Adressierungen einer Lehrenden in einem virtuellen Seminar in Abhängigkeit von der Sichtbarkeit der Studierenden variieren und welche Subjektivierungseffekte es auf die Studentin hat, ob ihre Kamera ein- oder ausgeschaltet ist. Somit konnten die Studierenden selbstbestimmt Schwerpunkte bei den eingeführten Theorien und den zu untersuchenden Lehr-Lern-Praktiken setzen.
Die Wahl der Methode lässt sich sowohl inhaltlich als auch pragmatisch begründen. Mit Hilfe autoethnografischer Forschung sollen „persönliche Erfahrungen (auto) beschrieben und systematisch analysiert werden (grafie), um sozio-kulturelle Erfahrung (ethno) zu verstehen“ (Adams et al., 2020, S. 2). Damit handelt es sich um einen stark reflexiven Zugang, bei dem „das subjektive Erleben der Forscher*innen als zentrale Ressource für Erkenntnisprozesse“ (ebd.) angesehen wird. Gerade mit Blick auf Subjektivierungsprozesse in Lehr-Lern-Praktiken erscheint ein praktischer und reflexiver Nachvollzug der Lernendenposition für angehende (Sport-)Lehrkräfte von Mehrwert. Pragmatisch lässt sich die Wahl der Methode mit den pandemiebedingten Sicherheitsbestimmungen begründen, da die Methode auch unter den stetig wechselnden Kontaktbeschränkungen durchführbar ist. Nach einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit der Methode suchten sich die Studierenden eigenständig konkrete (sportive) digitale Lehr-Lern-Praktiken, die sie in einem Zeitraum von 4 Wochen autoethnografisch unter ihrer jeweiligen Forschungsfrage beleuchteten. Wie aus den oben genannten Beispielen schon deutlich wurde, variierten die gewählten Untersuchungsgegenstände bspw. in ihrer Zeitlichkeit (synchron/asynchron; Dauer pro Termin und Anzahl an Terminen), ihrem Inhalt und dem Zugang und der Verbindlichkeit (freie, allen zugängliche Videos bspw. bei youtube / kostenpflichtige / exklusive Seminare für eine spezifische Zielgruppe). Neben den oben genannten Beispielen wurden auch synchrone kostenpflichtige Einführungskurse bspw. ins Surfen, Wearables wie digitale Pulsuhren oder auch Lehr-Lern-Praktiken abseits des Sportkontexts wie bspw. Sprach-Lern-Apps untersucht.

Die Studierenden sollten in ihren Ergebnisdarstellungen nicht nur ihre jeweilige Forschungsfrage beantworten, sondern auch auf die sich ableitenden Konsequenzen für digitalen Sportunterricht und ihre eigene Lehrer*innenbildung eingehen. Dabei wurden die Ergebnisse zweischrittig aufbereitet: Neben einer klassischen wissenschaftlichen Hausarbeit, die durch die Verschriftlichung der Ergebnisse eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Theorien und der – für die meisten Studierenden – neuen Methode bewirkte, sollten die Ergebnisse auch in einer selbst zu wählenden digitalen Form präsentiert werden. 1 Durch die Vorgabe einer rein asynchronen Präsentation setzten sich die Studierenden aktiv mit digitalen Technologien auseinander und sammelten (erste) Erfahrungen mit asynchronen, digitalen Formen des Präsentierens: Neben besprochenen Power-Point-Präsentationen, Podcasts, Interviews und Videos wurden auch Blogs geschrieben, Poetry-Slams aufgezeichnet und Zeitschriften erstellt, in denen die Studierenden ihre Ergebnisse darstellten (vgl. bspw. Abb. 2-5). Diese kompakte und mediale Aufbereitung – im Sinne einer Wissenschaftskommunikation – ermöglichte eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Ergebnissen, die in den Präsentationen auf zentrale Aspekte runtergebrochen und einfach formuliert wurden..

3.2 Zweites Semester
Nachdem im ersten Semester Grundlagen bzgl. der Theorieperspektive und der digitalen Kompetenzen gelegt wurden und die Studierenden durch ihre autoethnografischen Untersuchungen erste Erkenntnisse hinsichtlich der (Re-)Adressierungsmöglichkeiten, Leistungskonstruktionen und Subjektivierungsprozesse in digitalen Lehr-Lern-Praktiken erlangt haben, wurde im Sommersemester 2021 der Schwerpunkt auf die Konzeption und Erprobung von digitalen Sportunterrichtseinheiten gelegt. Hierfür teilten sich die Studierenden in Kleingruppen ein, innerhalb derer sie jeweils eine digitale Sportunterrichtsstunde konzipierten. Um thematisch wieder einzusteigen und die Erkenntnisse aller Studierenden zu bündeln, sichtete jede Gruppe in den ersten zwei Wochen des Semesters alle Präsentationen, die seminaröffentlich waren. Als Beobachtungsfolie dienten hier gemeinsam erarbeitete Punkte: Neben der theoretischen Perspektivierung und der Bewertung des eingesetzten Präsentationstechnologien sollten die Studierenden auch die Präsentationen mit Blick auf ihre Länge, die Ansprache der Rezipient*innen und die Eignung der eingesetzten Technologien für den Inhalt bewerten, um auch hieraus Erkenntnisse für die anstehende Konzeption von digitalen Sportunterrichtseinheiten zu generieren. In der dritten Semesterwoche wurden im Plenum die Ergebnisse aller Gruppen besprochen, und es wurde gemeinsam ein Rahmen für die zu konzipierenden Unterrichtseinheiten festgelegt: Welchen (zeitlichen und inhaltlichen) Umfang sollen die Einheiten haben? Welche technischen/räumlichen Aspekte auf Seiten der potenziellen Zielgruppe müssen berücksichtigt werden? etc. Um auch die „Entwicklung und Umsetzung neuer Formen des Unterrichtens mit digitalen Medien“ (Eickelmann & Gerick, 2020, S. 158) zu ermöglichen, sollten hier möglichst wenig Beschränkungen erfolgen. So blieb es bspw. den Gruppen selbst überlassen, ob sie synchrone oder asynchrone Formate wählen und welche Technologien sie innerhalb der Einheiten verwenden. In den anschließenden Wochen erfolgte wieder eine Gruppenphase, in der die Studierenden ihre Einheiten planten und Rücksprache mit mir als Dozentin hielten. Ab der 9. Semesterwoche wurden die digitalen Sportunterrichtseinheiten durchgeführt und direkt im Anschluss mit der gesamten Gruppe reflektiert. Hierbei bildete der Rest der Seminargruppe jeweils die Schüler*innenschaft. 2 Bei asynchronen Formaten erhielt die Lernendengruppe eine Woche Zeit die Einheiten durchzuführen, so dass zum gemeinsamen Seminartermin die Reflexion erfolgen konnte.

Die Inhalte der Stunden waren sehr facettenreich. Während einige Gruppen bspw. biomechanische Prinzipien mit Hilfe von Alltagsmaterialien – angepasst an die Gegebenheiten in den eigenen vier Wänden – erforschen ließen, schickten andere Gruppen die Lernenden in ihre Wohnumgebung und ließen diese bspw. Stationskarten (teils mit Videos) zu unterschiedlichen Überwindungsmöglichkeiten von Hindernissen erstellen aus denen dann in der gemeinsamen Sitzung ein Bewegungsrepertoire für die Sportart Parkour erstellt wurde. Eine Gruppe ließ die Lernenden – ausgehend von der Auseinandersetzung mit dem subjektiven Zeitempfinden im Zuge der Corona-Pandemie –Alltagsbewegungen in verschiedenen Geschwindigkeiten erproben und auf freiwilliger Basis auf einer gemeinsam einsehbaren digitalen Plattform präsentieren (vgl. Abb. 6). Aus diesen Videos der Alltagsbewegungen in verschiedenen Geschwindigkeitsstufen konnten im Anschluss erste Bewegungsideen für ein tänzerisches Projekt in Anlehnung an Pina Bausch entwickelt werden.
Eine alle Inhalte zusammenführende Sitzung im Plenum bildet den Abschluss des Seminars.

4. ERKENNTNISSE UND AUSBLICK

Im Folgenden wird der Mehrwert des Seminars nach Kompetenzbereichen sortiert vorgestellt und durch Zitate aus den Hausarbeiten und Reflexionsgesprächen mit den Studierenden gerahmt:

4.1 Forschungsmethodische Kompetenzen

Ich möchte in meinem zukünftigen Unterricht, ob online oder nicht und ob Sport oder nicht, auf Feedback, Diagnose, Instruktion und Differenzierung achten. Dies ist mir besonders deutlich geworden, weil ich in meiner autoethnografischen Untersuchung die Erfahrung machen konnte, wie sich Sport anfühlt, der überfordert oder keinen Spaß macht. (w3)

Dem Ansatz des forschungsorientierten Lernens folgend, bildeten eigene, kleine Forschungsprojekte den Kern des ersten Semesters im Projektseminar. Die Methode der Autoethnografie zeigte sich als besonders geeignet, um sich die theoretischen Zugänge zu vergegenwärtigen und die Subjektivierungsmechanismen am eigenen Körper zu spüren. Gerade vor dem Hintergrund der (De-)Professionalisierungsdebatte angehender Sportlehrkräfte (vgl. bspw. Schierz, 2014) in der die Bedeutsamkeit einer kritischen Distanznahme zur eigenen Sportsozialisation betont wird und Irritationen durch ‚Krisenerfahrungen‘ im Kontext von Sport als zentral für die Professionalisierung angesehen werden, ermöglichen autoethnografische Zugänge neue Blickwinkel und die Ausbildung einer forschenden und reflexiven Haltung (vgl. ebd., S. 3). Dies wird im nächsten Absatz anhand konkreter Beispiele aus den Arbeiten tiefergehend verdeutlicht.

4.2 Theorie-Kompetenzen und ihre Übertragung auf Lehr-Lern-Praktiken

Durch die Studie hat sich mir ein neues Forschungsfeld eröffnet, in dem ich noch eine Menge lernen kann. Einen Blick dafür zu entwickeln, was die verschiedenen Adressierungsmöglichkeiten mir als Lehrkraft sowohl an Chancen als auch an Risiken bieten, ist nicht nur für den digitalen Unterricht von Bedeutung. Auch der Präsenzunterricht wird dadurch bereichert, dass ich mir über meine Wortwahl und die damit verbundenen Bilder, Fähigkeiten und Wertschätzungen, die ich auf meine Schülerinnen und Schüler projiziere, bewusst werde. (m1)

Die wenigsten Studierenden hatten im Vorfeld des Projektseminars Berührungspunkte mit der beschriebenen theoretischen Perspektivierung. Die Bedeutsamkeit der jeweiligen (Re-)Adressierungen, Leistungskonstruktionen und Subjektivierungsprozesse für die zukünftige Tätigkeit der Studierenden als Sportlehrkräfte kristallisierte sich insbesondere durch die Einnahme der Lernendenrolle in ihren autoethnografischen Untersuchungen heraus. Bspw. thematisiert eine Studentin in ihrer Arbeit über einen synchronen Online-Kurs zu einer ihr bis dahin unbekannten Sportart, wie sie die korrigierenden verbalen Adressierungen des Trainers per Video verunsicherten und frustrierten, weil sie ohne körperliche Korrektur und nur durch die eingeschränkte Sicht per Video nicht in der Lage war die Korrekturen umzusetzen. Ihr ist die Bedeutung von konkreten Korrekturhinweisen und auch positivem Feedback durch diese Erfahrung klar geworden und die Erkenntnisse wurden versucht in der eigenen digitalen Sportunterrichtseinheit umzusetzen. Bestärkende Adressierungen werden jedoch nicht per se als positiv gewertet. So thematisieren zwei Studierende, die asynchrone Sportangebote     in ihren autoethnografischen Studien per Video ausprobierten, dass verbale Adressierungen wie „gut gemacht“ oder „weiter so“ von ihnen negativ gewertet wurden, da die Lehrenden nicht wissen konnten, ob die erbrachte ‚Leistung‘ tatsächlich ‚gut‘ war. Diese Studierenden favorisierten daher bei den eigenen digitalen Sportunterrichtseinheiten synchrone Formate und konzentrierten sich dort auf adäquate Rückmeldungen. Ein Student, der aus dem Wettkampfbereich kommt, sah sich in einer eher meditativen Praktik mit einer neuen Leistungskonstruktion konfrontiert, die konträr zu seiner bisherigen sportiven Sozialisation war. Die Möglichkeit diese Praktik in seinen privaten Räumen für sich in Ruhe und unbeobachtet auszuprobieren, ermöglichte es ihm, sich darauf einzulassen und auf seine bisherigen Leistungskonstruktionen zu reflektieren. Jedoch scheinen sich nicht alle digitalen sportiven Praktiken für die privaten Räume zu eignen bzw. umgekehrt: sind nicht alle räumlichen Anordnungen für (bestimmte) sportive Praktiken gleich geeignet. So berichteten mehrere Studierende von einer fehlenden Affiziertheit für die im Video präsentierte sportive Praktik, da die eigenen Räumlichkeiten zu anderen Praktiken (bspw. dem auf dem Sofa Verweilen oder dem Hausarbeiten Schreiben) aufriefen. Diese Erkenntnisse wurden bei der Konzeption der eigenen digitalen Einheiten hinsichtlich dem Materialeinsatz berücksichtigt und Alltagsmaterialien in die digitalen Sportunterrichtseinheiten integriert. Der Aufforderungscharakter, der von Dingen ausgehen kann, war auch Thema bei den Arbeiten über Wearables oder Apps, die einzelne Studierende zu ihrer Nutzung aufriefen. Hier wiederum kam Frust auf, wenn erbrachte ‚Leistungen‘ falsch oder gar nicht gemessen wurden und somit die Anerkennung als sportives Subjekt verwehrt wurde. Die Arbeiten zeigen, dass der Fokus auf diese Aspekte in autoethnografischen Untersuchungen ein tiefergehendes Verständnis für die Theorien und ihre Bedeutsamkeit für Lehr-Lern-Praktiken fördert.

4.3 Digitale Kompetenzen

Durch das Seminar habe ich neue digitale Präsentationsarten kennengelernt, die ich auch in Zukunft im Studium und Beruf einsetzen möchte.(w5)

Ein reflektierter Einsatz von digitalen Technologien in Lehr-Lern-Praktiken, wie er vom Kultusministerium als Zielvorgabe formuliert wird, bedarf einer aktiven Auseinandersetzung mit den verschiedenen Instrumenten. Das Projektseminar eröffnet einen geschützten Raum des Ausprobierens und gemeinsamen Reflektierens auf die verschiedenen Chancen, Grenzen, Herausforderungen und Effekte, die mit den verschiedenen Technologien und Formaten einhergehen. So können die angehenden Sportlehrkräfte neue digitale Kompetenzen entwickeln und informiert Entscheidungen über ihren Einsatz treffen.

4.4 Neuperspektivierung auf digitale Lehr-Lern-Praktiken (im Kontext Sport)

Zu Beginn des Semesters beantwortete ich die Frage, was digitaler Sportunterricht für mich ist damit, dass er im Widerspruch zu meinem Verständnis von Sport steht. Gemeinschaft, Kommunikation, weiträumige und vielfältige Bewegungsmöglichkeiten sind nicht möglich und so bleibt nur theorielastiger Frontalunterricht vor der Kamera. Basierend auf den Ergebnissen meiner autoethnografischen Studie wurde ich jedoch eines Besseren belehrt. Ich war überrascht wie interaktiv Sport im digitalen Format gestaltet und wie konstruktiv Feedback trotz fehlender physischer Gemeinschaft gegeben werden kann. (w12)

Während in der allerersten Seminarstunde die Studierenden ein eher skeptisches Meinungsbild zu digitalen sportiven Lehr-Lern-Praktiken skizzierten, wandelte sich dies im Verlauf des Projektseminars bei vielen Teilnehmenden. Neben der theoretischen Auseinandersetzung mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem Kennenlernen von Best-Practice Beispielen waren auch hier die autoethnografischen Studien als auch die durchgeführten digitalen Sportunterrichtsstunden ausschlaggebend. Das anschließende gemeinsame Reflektieren auf die Potenziale aber auch Grenzen der Einsatzmöglichkeiten von digitalen Formaten ermöglichte einen differenzierteren Blick. Hierbei ist es wichtig, Subjektivierungseffekte aber bspw. auch Fragen nach sozialer Ungleichheit zu berücksichtigen (vgl. bspw. Eickelmann & Gerick, 2020). Insgesamt eröffnet das Projektseminar den Studierenden neue Perspektiven auf digitale Lehr-Lern-Praktiken, die auch in zukünftig wieder in Kopräsenz stattfindenden Einheiten neue Formen des Unterrichtens ermöglichen können (vgl. ebd., S. 158).

1 Hierdurch sollte sichergestellt werden, dass niemand mehr von sich Preis gibt als die Person möchte. Die Studierenden konnten zudem selbst wählen, ob die Präsentationen nur mir als Dozentin zugänglich waren, oder seminaröffentlich. Des Weiteren wurde im Rahmen des Seminars immer wieder auf Datenschutzaspekte hingewiesen.

2 Es blieb den Studierenden jederzeit selbst überlassen, ob sie bspw. ihre Kamera aktivieren oder sich bei der Aufzeichnung von asynchronen Formaten zeigen.

AUTORIN

Dr. Alexandra Janetzko

promovierte am DFG geförderten Graduiertenkolleg ‚Selbst-Bildung - Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive‘ und ist seit 2020 als Post-Doc am Insitut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg im Arbeitsbereich Sport und Erziehung tätig. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung bilden praxeologische Perspektiven auf (Be-)Wertungs- und Subjektivierungsprozesse im Sport(-Unterricht) und Humandifferenzierungen im Sport.

LITERATUR

Adams, T.E., Ellis, C., Bochner, A.P., Ploder, A. & Stadlbauer, J. (2020). Autoethnografie. In G. Mey & K. Muck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (S. 1-21). Wiesbaden: Springer VS.

Eickelmann, B. & Gerick, J. (2020). Lernen mit digitalen Medien. Zielsetzungen in Zeiten von Corona und unter besonderer Berücksichtigung von sozialen Ungleichheiten. In D. Fickermann & B.

Edelstein (Hrsg.), „Langsam vermisse ich die Schule ...“. Schule während und nach der Corona-Pandemie (S. 153-162). Münster; New York: Waxmann.

Fichten, W. (2017). Forschendes Lernen in der Lehrerbildung. In R. Schüssler/A. Schöning, V. Schwier, S. Schicht, J. Gold, U. Weyland & J.M. Gold (Hrsg.), Forschendes Lernen im Praxissemester: Zugänge, Konzepte, Erfahrungen (S. 30-38). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Fischer, B. & Paul, A. (2020). Digitale Medien: Instrumente und Gegenstand von Lehr-Lernprozessen in der universitären SportlehrerInnenbildung. In ebd. (Hrsg.), Lehren und Lernen mit und in digitalen Medien im Sport: Grundlagen, Konzepte und Praxisbeispiele zur Sportlehrerbildung (S. 3-10). Wiesbaden: Springer VS.

Gesellschaft für Fachdidaktik e.V. (2018). Fachliche Bildung in der digitalen Welt. Positionspapier der Gesellschaft für Fachdidaktik. Zugriff am +49 05.11.2021 unter www.fachdidaktik.org/wordpress/wp-content/uploads/2018/07/GFD-Positionspapier-Fachliche-Bildung-in-der-digitalen-Welt-2018-FINAL-HP-Version.pdf

Greve, S., Thumel, M., Jastrow, F., Schwedler-Diesener, A., Krieger, C. & Süßenbach, J. (2020). Digitale Medien im Sportunterricht der Grundschule. Ein Update für die Sportdidaktik?! In M. Thumel, R.

Kammerl & T. Irion (Hrsg.), Digitale Bildung im Grundschulalter. Grundsatzfragen zum Primat des Pädagogischen (S. 325-340). München: kopaed-Verlag.

Kultusministerkonferenz (2019a). Empfehlungen zur Digitalisierung in der Hochschullehre. Zugriff am 05.11.2021 unter www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2019/BS_190314_Empfehlungen_Digitalisierung_Hochschullehre.pdf

Kultusministerkonferenz (2019b). Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung. Zugriff am 15.04.2021 unter www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2008/2008_10_16-Fachprofile-Lehrerbildung.pdf

Mierau, J. (2020). Lernen in digitalen Medien in der Lehramtsausbildung im Unterrichtsfach Sport. In B. Fischer & A. Paul (Hrsg.), Lehren und Lernen mit und in digitalen Medien im Sport: Grundlagen, Konzepte und Praxisbeispiele zur Sportlehrerbildung (S. 247-262). Wiesbaden: Springer VS

Pille, T. & Alkemeyer, T. (2016). Bindende Verflechtung. Zur Materialität und Körperlichkeit der Anerkennung im Alltag der Schule. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 92 (1), 170-194.

Rabenstein, K. & Reh, S. (2013). Von „Kreativen“, „Langsamen“ und „Hilfsbedürftigen“. Zur Untersuchung von Subjektpositionen im geöffneten Grundschulunterricht. In F. Dietrich/M. Heinrich & N. Thieme (Hrsg.), Bildungsgerechtigkeit jenseits von Chancengleichheit. Theoretische und empirische Ergänzungen und Alternativen zu ‚PISA‘ (S. 239-257). Wiesbaden: Springer VS.

Reh, S. & Ricken, N. (2012). Das Konzept der Adressierung. Zur Methodologie einer qualitativ-empirischen Erforschung von Subjektivation. In I. Miethe & H.-R. Müller (Hrsg.), Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie (S. 35-56). Opladen Farmington Hills: Barbara Budrich.

Schatzki, T. (2002). The Site of the Social: A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change. University Park: Pennsylvania State University Press.

Schierz, M. (2019). Aus der Praxis durch die Praxis in die Praxis? Lernlabore als Entschleunigungsagenturen auf dem Schnellweg in die Schule. In M. Hartmann, R. Laging & Chr. Scheinert (Hrsg.), Professionalisierung in der Sportlehrerbildung. Konzepte und Forschungen im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung (S. 60-70). Hohengehren: Schneider Verlag.

Schierz, M. (2014). Sportdidaktik wiederbelebt – professionalisierungstheoretische Reflexionen zu einem Rettungsversuch. Zeitschrift für sportpädagogische Forschung 2 (1), 3-20.