Eine Frage der Haltung
Warum Vorlesungen auch weiterhin in Präsenz gehalten werden sollten
Corona ist vorbei – oder zumindest hat es seinen größten Schrecken verloren. Wir fahren wieder ohne Maske mit der Bahn, wir arbeiten nicht mehr ausschließlich im Homeoffice, und die Lehrveranstaltungen an den Universitäten finden wieder in Präsenz statt. Auf den zweiten Blick gibt es allerdings durchaus noch Nachwirkungen. So sind die Lernrückstände von Schülerinnen und Schülern ebenso ein Thema wie ihre psychosozialen Defizite, die bis zu erhöhten psychischen Krankheitsraten reichen. Gleiches gilt übrigens für junge Erwachsene und damit auch für unsere Studentinnen und Studenten, nur dass diese Probleme nicht so prominent in der Öffentlichkeit diskutiert werden (Lüdemann & Kleinert, 2022; Andresen et al., 2023). Zugleich – und das ist zunächst positiv zu bewerten – haben wir die digitalen Fähigkeiten, die wir während der Coronapandemie lernen mussten, nicht vergessen. Manche Sitzung mit mehreren Universitätsstandorten kann so ohne größere Reisetätigkeiten problemlos eingeschoben werden. Es gibt aber auch Forderungen, die Lehrveranstaltungen an den Universitäten weiterhin digital oder doch zumindest hybrid anzubieten. Nicht zuletzt die Studierendenvertretungen fordern das etwa mit Blick auf Studierende, die Care-Tätigkeiten ausüben, massiv. Das gilt vor allem für Vorlesungen, in denen es vermeintlich nur um eine Vermittlung fachbezogenen Wissens geht.
Um nicht missverstanden zu werden: Für Studentinnen und Studenten, die aus persönlichen Gründen nicht an einer Lehrveranstaltung teilnehmen können, müssen Lösungen gefunden werden. Und selbstverständlich können universitäre Lehrveranstaltungen aus hochschuldidaktischen Gründen auf digitale Tools zurückgreifen, zumal wenn sie Aspekte der Digitalität selbst zum Gegenstand machen (Steinberg & Bonn, 2021). Ich bin aber strikt dagegen, Vorlesungen grundsätzlich (wieder) digital anzubieten, ganz gleich, ob das live (synchron) oder zeitlich versetzt (asynchron) geschieht. Vorlesungen gehören gemeinhin nicht zu den beliebtesten Lehrveranstaltungen bei Studierenden. Sie gelten oft als „trocken“ und wenig „praxisbezogen“. Warum dann so viel Aufwand betreiben? Einmal aufgezeichnet ließen sich Vorlesungen doch leicht mehrfach nutzen. Das spart den Lehrenden viel Zeit, die ihnen z.B. für die Forschung zur Verfügung stünde. Und die Studierenden könnten sich mit dem Inhalt der Vorlesung beschäftigen, wann immer sie Zeit und Lust dazu haben. Ganz so einfach wäre es allerdings nicht. Jenseits zu klärender Fragen der Lehrverpflichtungsverordnung müssten Lehrende trotzdem ihre Erreichbarkeit für Studierende sicherstellen. Und dass Studierende mit zunehmender Dauer der „Distanzlehre“ Motivationsprobleme bekamen, war in der Coronapandemie nicht nur an den ausgeschalteten Kameras in Videokonferenzen zu erkennen (Kirchmeier, 2020).
Mein Hauptargument für die Durchführung von Präsenzvorlesungen ist aber ein anderes: Eine Hochschullehrerin vermittelt nicht nur Fachwissen, sondern sie steht im wahrsten Sinne des Wortes für ihr Fach. Ein Hochschullehrer liest nicht nur Folien vor – zumindest sollte er das nicht nur tun –, sondern er brennt für seinen Gegenstand, er begeistert für seine fachlichen Fragen, er vertritt sein Fach vor seinen Studentinnen und Studenten. Mit einem Wort: Sie oder er verkörpert eine Haltung in Bezug auf den Fachgegenstand. Eine Haltung basiert auf der bewussten Auseinandersetzung mit zum Teil widersprüchlichen Sachverhalten und Werten. Sie versucht, die eigene Position mit den eigenen Erfahrungen und Überzeugungen in Einklang zu bringen (Solzbacher, 2017). So gesehen ist eine Haltung hart erkämpft – und Hochschullehrerinnen und -lehrer haben in der Regel ein Forscherleben lang hart mit ihrem Fachgegenstand gerungen. Im Gegensatz zur Einstellung erfordert eine Haltung zudem eine aktive Positionierung. So sind beispielsweise viele Menschen gegen „rechts“ eingestellt, sie halten rechtes Gedankengut für falsch, verabscheuen es vielleicht sogar. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sie dafür auf die Straße gehen oder sich bei rechten Übergriffen deutlich dagegen zur Wehr setzen – auch wenn das in letzter Zeit erfreulich häufig der Fall ist.
Ein Beispiel dazu, wie eine Haltung in einer Vorlesung wirken kann: Während meines Geschichtsstudiums an der Universität Göttingen hörte ich eine Vorlesung zur Alltagsgeschichte des Mittelalters. Die Vorlesung fand freitags morgens um 8 Uhr statt. Trotzdem mussten wir zweimal den Hörsaal wechseln, weil der Raum zu klein für die große Anzahl der Hörerinnen und Hörer war. Der Professor, dessen Namen ich leider vergessen habe, „erzählte“ quellenbasierte Alltagsgeschichten. In einer Sitzung ging es beispielsweise um die fehlende soziale Sicherung im Mittelalter sowie das „Almosen-Täschchen“, das bei gut betuchten Bürgern zur Mode gehörte und aus dem man Bettler selbstverständlich versorgte – auch weil man sich dadurch erhoffte, ins Himmelreich zu kommen. Mit einer bekannten Anekdote von Albert Einstein bezog der Professor das Thema dann auf die heutige Zeit: Als ein Bettler an Einsteins Haustür klingelte, wollte seine Frau ihn wegschicken, aber Einstein bat ihn herein und lud ihn zum Essen ein. Seiner irritierten Frau sagte er hinterher: Kein Mensch bettelt zum Vergnügen. Mich hat diese Positionierung damals sehr berührt. Ich habe mir sogar eine Rolle 50-Pfennig-Münzen von der Bank geholt und jedem Bettler eine Münze gegeben. Dabei hatte ich nur eine fachwissenschaftliche Vorlesung in mittlerer Geschichte gehört – allerdings bei einem Hochschullehrer, der eine klare Haltung zu seinem Fachgegenstand verkörpert hat.
Nun geht es in der Sportwissenschaft nicht oder zumindest nicht permanent um politische oder soziale Positionierungen – wie in der Geschichtswissenschaft übrigens auch nicht. Aber es geht schon um Fachgegenstände, um deren Verständnis gerungen wird. Was zum Beispiel verstehen wir unter „Bewegung“, „Sport“ oder „Körper“? Welches Verständnis haben wir von „Kindheit“, „Jugend“ oder „Alter“? Wie stehen wir zu Fragen von „Geschlecht“, „sozialer Herkunft“ oder „Inklusion“ im Sport? Für alle diese Begriffe gibt es Definitionen, die man nachlesen kann. Aber warum hat beispielsweise eine Naturwissenschaftlerin ein eher biomedizinisches Gesundheitsverständnis und ein Sozialwissenschaftler ein eher psychosoziales? Beide Positionen sind aus wissenschaftlicher Sicht nachvollziehbar, aber welche Argumente bringen die beiden für ihre Position vor? Wie stehen sie zur jeweils anderen Position? Welche Haltung verkörpern sie dazu in ihrer Vorlesung? Wenn sich Studentinnen und Studenten auf diese Fragen einlassen, wird Wissenschaft auf einmal spannend. Dann hat sie etwas mit Menschen und ihren subjektiven Erkenntnisinteressen zu tun. Dann wird sie mit Blick auf das spätere Berufsfeld der Studierenden ganz praktisch. Denn auch im Berufsleben müssen ständig begründete Entscheidungen getroffen werden, bei denen man Position beziehen muss.
Bleibt abschließend zu klären, ob all das nicht auch in einer digitalen Vorlesung vermittelt werden kann. Ich denke nein. Digitale Apps und Tools sind, mit Daniel Rode (2021, S. 55) gesprochen, keine „unschuldigen Werkzeuge“, sondern sie implizieren immer schon ein bestimmtes, kaum hintergehbares Grundverständnis. Das gilt auch für Video-Apps, wie Webex, Teams und Zoom, die ein bestimmtes Verständnis von Lernen mit sich bringen. In der Coronapandemie hat das anfänglich sehr geholfen, um Kontakt zu halten und allgemeine Wissensgehalte zu vermitteln, aber echte pädagogische Beziehungen oder gar Bildungsprozesse konnten damit nicht angeregt werden. Pädagogische Beziehungen brauchen Nähe und Authentizität. Lehrende und Lernende müssen „in Kontakt“ sein, müssen spüren, welche Botschaften „ankommen“ und welche nicht (Gudjons, 2003). Bildungsprozesse brauchen Zwischentöne, wenn sie gewohnte Muster „in Unordnung“ bringen wollen: Widerständigkeit und Fremdheit, Provokation und (stilles) Einvernehmen, Ironie und Humor – all das ist unter digitalen Bedingungen schwer vermittelbar, weil die Kommunikation im Wesentlichen auf die Sachebene begrenzt ist (Neuber, 2023). Aber genau das braucht es, um persönliche Haltungen sichtbar zu machen. Es braucht, um es kurz zu sagen, leibhaftige Menschen auf der Bühne, die wir Hörsaal nennen, und die für ihr Fach und ihre fachlichen Positionen einstehen. Und dafür braucht es auch heute, mehr als 1000 Jahre nach der Gründung der ersten Universitäten, immer noch Vorlesungen mit „echten“ Menschen.
Andresen, S., Lips, A., Möller, R., Özdemir, E., Schröer, W., Thomas, S., & Wilmes, J. (2023). JuCo IV - Der Einfluss der Corona-Pandemie auf das Wohlbefinden junger Menschen. Trends und anhaltende Auswirkungen. Universitätsverlag Hildesheim. doi.org/10.18442/250 (Zugriff am 12.02.2024).
Gudjons, H. (2003). Lebendig lehren und lernen – Die Themenzentrierte Interaktion (TZI) als Weg zum ganzheitlichen Unterricht. In H. Gudjons (Hrsg.), Didaktik zum Anfassen – Lehrer/ in-Persönlichkeit und lebendiger Unterricht (S. 77–102). Klinkhardt.
Kirchmeier, C. (2020). Generation unsichtbar – Warum wollen viele Studierende in Videokonferenzen kein Gesicht zeigen?epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html (Zugriff am 05.08.2022).
Lüdemann, J., & Kleinert, J. (2022). Mental health during the COVID-19 pandemic compared to the years before – a cohort study on sports students. In M. Bertollo, M. Bounous, A. Paoli & M. Ghisi (Eds.), Sport, exercise and performance psychology: challenges and opportunities in a changing world (16th European Congress of Sport and Exercise Psychology). Padova.
Neuber, N. (2023). Was Webex, Teams und Zoom nicht können – Zur Bedeutung von Leiblichkeit und Bewegung in Zeiten digitalen Lernens. In C. Fischer, C. Fischer-Ontrup, C., F. Käpnick, N. Neuber & C. Reintjes (Hrsg.), Potenziale erkennen – Talente entwickeln – Bildung nachhaltig gestalten. Beiträge aus der Begabungsforschung (Begabungsförderung: Individuelle Förderung und Inklusive Bildung, 14, S. 101-112). Waxmann.
Rode, D. (2021). Digitalisierung als kultureller Prozess – Grundlegende Bestimmungen und sportpädagogische Anschlüsse jenseits der Technologie. In C. Steinberg & B. Bonn (Hrsg.), Digitali- sierung und Sportwissenschaft (Brennpunkte der Sportwissenshaft, 41, S. 39-71). Academia.
Steinberg, C., & Bonn, B. (Hrsg.). (2021). Digitalisierung und Sportwissenschaft (Brennpunkte der Sportwissenshaft, 41). Academia.
Solzbacher, C. (2017). Professionelle pädagogische Haltung. Ein viel strapazierter Begriff für eine Pädagogik der Vielfalt. In C. Fischer, C. Fischer-Ontrup, F. Käpnik, F.-J. Mönks, N. Neuber & C. Solzbacher (Hrsg.), Potenzialentwicklung. Begabungsförderung. Bildung der Vielfalt – Beiträge aus der Begabungsforschung (Begabungsförderung: Individuelle Förderung und inklusive Bildung, 3, S. 313-321). Waxmann.