Persönlichkeitsentwicklung durch Kämpfen

Eine quantitative Fragebogenerhebung an Sportstudierenden

Julia van der Zander, Johannes Karsch

Doi: 10.25847/zsls.2022.064

ZUSAMMENFASSUNG

Ringen und Kämpfen ist nach wie vor trotz Verbindlichkeit ein im Vergleich wenig unterrichtetes Bewegungsfeld, das für Lehramt Sport Studierende größtenteils gänzlich neu ist. Zur Begründung für oder wider das Kämpfen im Sportunterricht werden seit Jahrzehnten immer wieder verschiedene Potenziale sowie Risiken diskutiert. Auf der einen Seite werden durch die körperliche Nähe, die gegenseitige Abhängigkeit sowie das partnerschaftliche Üben Zugewinne im Bereich Empathie, aber auch anderen Persönlichkeitsdimensionen postuliert, wohingehend andererseits begründet durch die kämpferische Interaktion auch Gefahren z.B. hinsichtlich steigender oder eskalierender Aggression vermutet werden.
Die vorliegende Studie möchte die Diskussion mit neuen Erkenntnissen bereichern und untersucht mit einem kontrollierten Prä-Post-Design die Empathie-, Selbstwert- und Aggressionsentwicklung von Sportstudierenden im Rahmen der Teilnahme an einem kampfbezogenen Sportpraxiskurs.
Wenngleich sich hierbei keine verallgemeinerbaren Entwicklungen einstellten, zeigt die vorliegende Untersuchung eine Zunahme des Selbstwerts sowie eine geringfügige Abnahme der Aggression der Versuchsgruppe. Die Selbstwertentwicklung geht dabei interessanterweise in großem Maße auf die Teilnehmerinnen zurück. Im ersten Messzeitpunkt zeigt sich weiterhin, dass Proband:innen, die nach eigenen Angaben über eine nicht näher beschriebene Vorerfahrung verfügen, höhere Aggressionswerte haben, als Kommiliton:innen ohne jegliche Vorerfahrung. Diese Ergebnisse stehen einerseits teilweise im Einklang mit bisherigen Befunden, geben andererseits aber auch Anstoß für weitere Forschungsdesiderate und praktische Implikationen.

 

1. EINLEITUNG

Mit der curricularen Novellierung des Sportunterrichts 1980 und 1999 wurde das Kämpfen ein obligatorischer Bestandteil des Sportunterrichts in Nordrhein-Westfalen (Karsch, 2017). Auch in anderen Bundesländern konnte sich das Kämpfen in den Lehrplänen etablieren. Ennigkeit (2016) zeigt in ihrer Lehrplananalyse, dass das Kämpfen Bestandteil in 15 von 16 gymnasialen Sportlehrplänen ist. Durch die semantische Fokussierung auf ein Bewegungsfeld ist potenziell eine unbegrenzte Anzahl von nicht normierten oder normierten Kampfhandlungen mit Anlehnungen an Kampfsportarten, Kampfkünsten oder Selbstverteidigungssystemen als Referenzpunkt für den Sportunterricht denkbar. Im vorliegenden Beitrag wird unter Bezugnahme der Sportlehrpläne für Nordrhein-Westfalen die Bezeichnung Ringen und Kämpfen (RuK) als Oberbegriff für die beschriebene Situation gewählt (vgl. MSB, 2019).
Die bewegungsfeldorientierte Gestaltung der Curricula bieten den Lehrkräften vielfältige Möglichkeiten, RuK im Sportunterricht aufzugreifen. Auch wenn aktuelle Zahlen nicht vorliegen, konnte die DSB-SPRINT-Studie (2006) zeigen, dass RuK aus Sicht der Schüler:innen mit 6,4 % Thematisierungen im laufenden Schuljahr nur marginal angeboten wird. Gleichzeitig wünschen sich 23,6 % der befragten Schüler:innen mehr RuK im Sportunterricht. Hierzu passt, dass Fischer und Froeschke (2016) im Rahmen einer Bestandsaufnahme zur Sportlehrer:innenfortbildung zeigen, dass das Bewegungsfeld RuK nach „Gestalten, Tanzen, Darstellen – Gymnastik/Tanz, Bewegungskünste“ von Lehrer:innen als besonders schwer zu unterrichten beurteilt wird. Mosebach (2007) schreibt von Vorurteilen vor allem unter Lehrkräften ohne Vorerfahrungen, wonach sich RuK im Unterricht zu einer aggressionsgeladenen Schlägerei entwickeln könnte.
Neben solchen Befürchtungen werden dem Kämpfen aber auch besondere Potenziale zugeschrieben. Neben einer gut begründbaren motorischen Verbesserung (Liebl, 2013) wird hier vor allem die Persönlichkeitsentwicklung ins Feld geführt. Anders als bei anderen Bewegungsfeldern stellt der Körperkontakt beim RuK eine wesentliche Voraussetzung dar, bei dem vor allem der verantwortungsvolle Umgang mit den Partner:innen von besonderer Bedeutung ist. Die Kampfhandlungen entsprechen einem komplexen Bewegungsdialog, in dem sowohl Siege, als auch Niederlagen körperlich erfahren werden (Happ, 1998). Das Bedürfnis zu ringen, rangeln und raufen tritt bereits im Kindesalter auf und gleicht einer spielerischen Auseinandersetzung mit vielfältigen Erfahrungsmöglichkeiten, die emotional-soziale, sowie motorische und kognitive Entwicklungsprozesse unterstützen können (Landessportbund et al., 2008). Eine weitere Besonderheit des Kämpfens ist die in manchen Beiträgen angenommene gewaltpräventive Wirkung (Schwarz, 2008; Samac, 1999; Brünig, 2004; Vetter, 2007). Diese begründet sich in verschiedenen Aspekten. Zum einen hilft das Kämpfen dabei, die eigene Selbstkontrolle zu verbessern und die eigenen Grenzen besser einzuschätzen. Zum anderen kann beim gemeinsamen Kämpfen das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit erfahren werden, was die Bereitschaft zu Kooperation, Regelaushandlung und -einhaltung, Rücksichtnahme und Verantwortungsübernahme erhöht (Kuhn & Ennigkeit, 2020).
Auch wenn die Besonderheiten des Kämpfens - der enge Körperkontakt, der Bewegungsdialog zwischen zwei Kämpfenden, der Symbolgehalt, Gefühle von Macht und Ohnmacht - unbestritten sind, so konnte ein Wirkautomatismus in Richtung positiver Persönlichkeitsentwicklung von Liebl et al. (2016) im Rahmen einer Übersichtsarbeit nicht bestätigt werden. Wenngleich es Hinweise für die Auswirkung des Kämpfens auf verschiedene Parameter der Persönlichkeit gibt, kann die Frage zum Beitrag zu einer positiven Persönlichkeitsentwicklung bis heute wissenschaftlich nicht abschließend geklärt werden (Binder, 2007; Liebl et al., 2016; van der Kooi, 2020; Vertonghen & Theeboom, 2010). Liebl et al. (2016) verweisen in diesem Zusammenhang auf eine mitunter zu positive Interpretation vorhandener Studien aber auch methodischen Mängeln wie z.B. dem Umgang mit Störvariablen.
An dieser Stelle setzt der vorliegende Beitrag an. So soll anhand von Sportstudierenden untersucht werden, inwiefern das für sie größtenteils neue Bewegungsfeld RuK persönlichkeitsbildend wirkt. Mit Aggression, Selbstwertgefühl und Empathie wurden dabei drei Bestandteile der Persönlichkeit gewählt, die sich theoretisch fundiert mit RuK in Verbindung bringen lassen und die auch in anderen Studien bereits genutzt wurden (vgl. allgemein: Grevenstein, 2020; Werner & Collani, 2014; Brailovskaia & Margraf, 2018 und für RuK: Liebl et al., 2016, van der Kooi, 2020). Ziel ist es, neue Daten für die immer wieder aufkommende Frage nach dem persönlichkeitsbildenden Wert von RuK zu generieren und diese ergebnisoffen zu interpretieren.

 

2. METHODIK

Stichprobe
Die Stichprobe bestand aus n = 221 Studierenden (62.4% männlich, 37.6% weiblich) zwischen 18 und 40 Jahren (M = 22.06, SD = 2.95) der Deutschen Sporthochschule Köln. Von diesen nahmen n = 131 Studierende an kampfbezogenen Praxiskursen teil und wurden nicht randomisiert, sondern nach Wahl des jeweiligen Kurses im Rahmen der Belegphase der Versuchsgruppe (VG) zugeordnet. Die Kontrollgruppe (KG) bestand aus n = 90 Studierenden, die an verschiedenen praktischen Kursen im Bereich Tischtennis teilnahmen. Personen, die beide Kurse absolvierten, wurden exkludiert. Sowohl VG als auch KG bestand dabei aus Studierenden mehrerer Kursgruppen, die nach Anmeldung zum Kursbestehen verpflichtend und mit maximal zwei Fehleinheiten an den jeweils 90 minütigen Einheiten teilnahmen.
An der Studie nahmen zunächst 221 Proband:innen teil. Insgesamt kam es in der KG und in der VG zwischen den Messzeitpunkten zu einer Drop-Out-Rate von 18,6%. Eine mögliche Ursache könnte zum einen darin liegen, dass Studierende, die öfter als zwei Mal gefehlt haben, von der Teilnahme am Kurs sowie der Studie ausgeschlossen wurden. Zum anderen hat die Befragung ausschließlich während der Kurszeit stattgefunden, sodass krankheitsbedingt abwesende Studierende nicht teilnehmen konnten.

Studiendesign und Intervention
Vorliegend wurde ein quasiexperimentelles Untersuchungsdesign ohne randomisierte Gruppenzuordnung gewählt. Im Fokus stand die Entwicklung der Gruppenmittelwerte in den Dimensionen Empathie, Aggression und Selbstwert kontrolliert durch eine KG. Die VG bestand aus Studierenden dreier unterschiedlicher Kursangebote (siehe Abb. 1). Der RuK Lehramtskurs ist verpflichtend für alle Lehramtsstudierenden, wohingegen die beiden anderen Angebote freiwillig im Rahmen des sportwissenschaftlichen Basisstudiums gewählt werden konnten. RuK fand einmal wöchentlich statt, Fechten und Judo zweimal und Aikido, Boxen und Krav Maga je einmal, also in Summe dreimal. Tischtennis ist per se unter einer Auswahl mehrerer Rückschlagsportarten fakultativ, sodass sich die Studierenden hier freiwillig einmal wöchentlich einfanden.
Die Praxisveranstaltungen der VG zeichneten sich im Bereich RuK vor allem durch einen vielseitigen Einblick in das Bewegungsfeld aus. Dabei wurden inhaltlich vor allem normungebundene Kämpfe (vgl. Happ & Liebl, 2016) z.B. um Raum, Positionen oder Gegenstände im Stand und am Boden durchgeführt. Weiterhin fanden Kämpfe mit Handicaps oder in Gruppenkonstellationen statt. Neben Kampfformen mit direktem Körperkontakt wurden auch Kämpfe mit indirektem Körperkontakt (Leichtkontaktvarianten des Schlagens und Tretens) sowie mit Gerätschaften (z.B. Stock, Pool-Nudel, Zeitungsrolle) durchgeführt. Vereinzelt wurden Analogien zu bestehenden Sportarten wie z.B. zum Judo aufgezeigt. Alle anderen Kurse (Judo, Fechten, Aikido, Boxen, Krav Maga, Tischtennis) orientierten sich inhaltlich näher an den jeweiligen Sportarten. Die Schwerpunkte lagen in den praktischen und theoretischen Grundlagen sowie der Vermittlung. In den Lehramtskursen fand außerdem ein regelmäßiger Bezug zum schulischen Sportunterricht und damit vor allem zum späteren Berufsfeld statt.
In Form einer Feldstudie mit zwei Messzeitpunkten (MZP) zu Beginn und am Ende des Semesters (15 Wochen) wurden die Empathie,- Selbstwert- und Aggressionswerte in einer ca. 15 minütigen Fragebogenerhebung ermittelt. Zudem wurden mithilfe vierer Items soziodemografische Daten erfasst. Die Studierenden wurden diesbezüglich zu ihrer Semesterzahl, ihrem Geschlecht und ihrem Alter befragt. Außerdem wurden sie gebeten, Angaben zu den Vorerfahrungen in den Bereichen Kampfsport, Kampfkunst und Selbstverteidigung zu machen (0 = nein/keine Vorerfahrung, 1 = ein wenig, 2 = ja/Vorerfahrung).

Skalen
Die Empathie wurde mithilfe des Saarbrücker Persönlichkeitsfragebogens (SPF), der die deutsche Übersetzung des Interpersonal Reactivity Index (IRI) (Davis, 1980) darstellt, mit insgesamt 16 Fragen über je vier Items zu den vier Subskalen perspective taking, fantasy, empathic concern und personal distress ermittelt. Perspective talking meint die Fähigkeit, eine Sache aus der psychologischen Perspektive jemand anderes sehen zu können (Folgend: Perspektivenwechsel). Fantasy misst emotionale Tendenzen der Proband:innen, sich in eine Gefühlswelt von Figuren in Romanen oder Filmen zu versetzen (Folgend: Fantasie). Empathic concern erfasst fremdorientierte Gefühle wie Mitleid oder Sorge um Personen in Not (Folgend: Mitgefühl). Im Gegensatz dazu meint personal distress eigenfokussierte Gefühle wie Unruhe und Unwohlsein in interpersonalen Situationen (Folgend: Persönliche Betroffenheit).
Aggression wurde mithilfe der deutschen Version (Werner & Collani, 2014) des Aggressions-Fragebogens (PBAG) von Buss und Perry gemessen. Der Fragebogen umfasst 29 Items in vier Subskalen der Aggression: Physische (9 Items) und verbale (5 Items) Aggression, Ärger (7 Items) als affektive Komponente und Feindseligkeit bzw. Misstrauen (8 Items) als kognitive Komponente. Darin werden ebenso Verbitterung und das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, gefasst.
Zur Erfassung des Selbstwertgefühls wurde die German Single-Item Self-Esteem Scale (Brailovskaia & Margraf, 2018) verwendet. Dieser Fragebogen stellt die revidierte Fassung der ursprünglichen englischsprachigen Version von Robins et al. (2001) dar. In der deutschen Sprachfassung werden die TeilnehmerInnen gebeten zu bewerten, inwiefern die Aussage „Ich habe ein hohes Selbstwertgefühl“ auf sie zutrifft. Alle Items wurden mit einer fünfstufigen Likert-Skala versehen, die von nie bis immer bzw. trifft nicht zu bis trifft voll zu reichte.

Datenauswertung
Die Vergleichbarkeit von VG und KG hinsichtlich Alter, Vorerfahrung, Geschlechtsverteilung und Semesterzahl wurde mithilfe des Qui-Quadrat-Tests überprüft. Da die Veränderungen der Gruppenmittelwerte zugunsten einer individuellen Entwicklung im Vordergrund standen, wurde auf eine Zuordnung der beiden Erhebungszeitpunkte zueinander verzichtet und die Entwicklung von Selbstwert, Aggression und Empathie mittels unabhängigem t-test nachgezeichnet.
Die Normalverteilung wurde überprüft, konnte jedoch aufgrund des Stichprobenumfangs vernachlässigt werden (vgl. Raab-Steiner & Benesch, 2010; Bortz, 2005). Die Voraussetzungen für die univariaten Varianzanalysen wurden in allen Fällen mit dem Levene-Test auf Varianzhomogenität überprüft und erfüllt. Das Signifikanzniveau α beträgt 5%, wobei folgend stets die exakten p-Werte angegeben werden.
Für die Auswertung der Daten wurde das Statistikprogramm Statistical Package for Social Sciences (SPSS Version 27, 2020) verwendet.

 

3. ERGEBNISSE

Vergleichbarkeit Kontrollgruppe und Versuchsgruppe
Um etwaige Vorerfahrungen in die Untersuchung miteinbeziehen zu können, wurden die Studierenden zu ihrem subjektiven Eindruck über die eigene Kampfvorerfahrung befragt. Von den 221 Teilnehmenden geben 33 Personen an, über Vorerfahrungen im Kämpfen zu verfügen. 62 Personen verfügen nach eigener Ansicht über ein wenig und 126 über gar keine Vorerfahrung. Die Vorerfahrung ist leicht zugunsten der Probanden verschoben, wenngleich der Geschlechterunterschied nicht signifikant wird.
Die KG ist der VG bezogen auf Alter, Vorerfahrung und Geschlecht gemäß Chi-quadrat Test ähnlich (vgl. Tab. 1). Lediglich die Semesterzahl unterscheidet sich signifikant (p < .01) und ist bei der KG mit M = 2.36 (SD = 1.70) niedriger als bei der VG M = 4.05 (SD = 1.73). Für die nachfolgenden Untersuchungen wird von einer Vergleichbarkeit beider Gruppen ausgegangen, sodass etwaige Abweichungen der untersuchten Parameter auf die jeweilige Intervention (Kämpfen oder Tischtennis) zurückgeführt werden.

Ergebnisse in den Bereichen Selbstwert, Aggression und Empathie
Nachfolgend werden die Veränderungen in den Domänen Selbstwert, Aggression und Empathie sowie der dazugehörigen Subkategorien beschrieben. Die Ergebnisse zeigt Tabelle 2.
Wie aus Tabelle 2 ersichtlich sind die Empathie[1] - und Aggressionswerte[2] insgesamt und deren Subskalen größtenteils konstant geblieben. Bei der VG zeigt sich eine geringfügige Veränderung zwischen den beiden MZP in den Facetten Misstrauen (-0.06) und Ärger (-0.09). Der Selbstwert der VG erfuhr mit +0.14 (cohen`s d = 0.16) die größte Veränderung, die jedoch nicht signifikant wird. Im Vergleich zur KG erscheint diese Veränderung größer (siehe Abb. 2), wenngleich sich auch hier mittels univariate Varianzanalyse keine Signifikanz abzeichnet.
Interessant erscheint auch die Entwicklung des Selbstwerts[3] durch die kampfbezogenen Hochschulkurse aus der Geschlechterperspektive. Die Probandinnen scheinen durch die Teilnahme an einem kampfbezogenen Hochschulkurs eine größere Veränderung im Bereich Selbstwert zu erfahren als ihre Kommilitonen (vgl. Tab. 3). Statistisch zeigt sich jedoch kein signifikanter Haupteffekt für den Faktor Zeit (p = 0.15), jedoch für das Geschlecht (p = .04). Der Interaktionseffekt verbleibt unter der Signifikanzschwelle (p = 0.50).
Neben den Entwicklungen treten auch unterschiedliche Ausprägungen der drei Persönlichkeitsmerkmale hinsichtlich der Vorerfahrung zutage. So zeigen Proband:innen je nach Vorerfahrung unterschiedliche Aggressionsausprägungen an (F(2,398) = 11.7, p < .001). Der Bonferroni Post-Hoc-Test bestätigt eine signifikant höhere Aggressionsausprägung (+0,24) bei Proband:innen mit Vorerfahrung im Vergleich zur Gruppe ohne Vorerfahrung (p < .001). Ähnlich verhält sich der Selbstwert, der bei den Proband:innen mit Vorerfahrung im Vergleich zur Gruppe ohne Vorerfahrung um 0,28 erhöht ist, wenngleich dies aufgrund des hohen Standardfehlers keine Signifikanz ausbildet (F(2,399) = 1.7, p = 0.18).

[1] Grevenstein (2020) präsentiert eine via social media rekrutierte 1.842 köpfige Stichprobe (MAlter = 28.1, 85.5% weiblich) mit den aufaddierten Summen FS = 13.7 (SD=2.6), PD = 9.9 (SD = 2.7), PT = 15.29 (SD = 2.2) und EC = 14.7 (SD = 2.1). Identisch ausgewertet kommt vorliegende Stichprobe zu folgenden Summen: FS = 13.6 (SD = 2.6), PD = 9.7 (SD = 2.2), PT = 14.7 (SD = 2.3) und EC = 14.6 (SD = 2.3).

[2] Werner & Collani (2014) präsentieren in ihrer Studie Vergleichswerte zweier Stichproben. Stichprobe 1 umfasst 271 im Schnitt 22.5 jährige Psychologiestudierende mit 83.4% Frauenanteil. Stichprobe 2 umfasst 415 Onlinebefragte mit Altersdurchschnitt 28.6 und 69.2% Frauenanteil. (Stichprobe 1: MW = 53.6; SD = 9.0, Stichprobe 2: MW = 60.7; SD = 12.2). Werden die vorliegenden Daten so wie bei Werner & Collani (2014) kodiert und ausgewertet, beträgt der MW bei deutlich höherem Männeranteil (ca. 2/3) für Aggression 62.6 (SD = 13.3).

[3] Brailovskaia & Margraf (2018) präsentieren in ihrer Studie Vergleichswerte einer Erhebung unter 989 im Schnitt 23.7 jährigen Studierenden einer großen deutschen Universität mit 69.8% Frauenanteil und einem Mittelwert von 3.3 (SD = 1.1). Dementsprechend umkodiert beträgt der durchschnittliche Selbstwert vorliegend 3.6 (SD = 0.9).

 

4. DISKUSSION

Die Untersuchung zeigt keine verallgemeinerbaren Entwicklungen in den Kategorien Selbstwert, Aggression und Empathie durch die Teilnahme an einem sportpraktischen Hochschulkurs im Bereich des Kämpfens an. Die Proband:innen der kampfbezogenen VG zeigen bei stabiler Empathieausprägung jedoch eine Steigerung des Selbstwerts und eine sehr geringfügige Reduktion der Aggressionswerte. Dies könnte auf die kurze Dauer (15 Wochen) sowie teilweise niedrige Intensität (1-3 mal pro Woche) der Intervention zurückzuführen sein. Nosanchuk und Lamarre (2002) verweisen darauf, dass erst mehr als ein Jahr Training zu erkennbaren Effekten im Bereich Persönlichkeitsentwicklung führt. Hiermit steht der Befund größtenteils im Einklang mit den Ergebnissen verschiedener Reviewarbeiten, die den Zusammenhang von Kämpfen und Persönlichkeitsentwicklung, wenngleich vor allem bei Jugendlichen, in den Blick nehmen (Liebl et al., 2016; van der Kooi, 2020; Vertonghen & Theeboom, 2010).
Die Steigerung des Selbstwerts der VG, die aufgrund fehlender Signifikanz nicht verallgemeinert werden kann, steht tendenziell im Einklang mit anderen Studien, die einen positiven Zusammenhang von Zweikampfsport und Selbstwertsteigerung zeigen konnten (Ortenburger et al., 2017; Richman & Rehberg, 1986). Die tendenziell höhere positive Veränderung bei den Teilnehmerinnen lässt sich bislang nicht aus der Literatur ableiten, was ein zukünftiges Desiderat aufzeigen könnte. Qualitative Einblicke in die Lern- und Wirkpotenziale von RuK gibt eine Untersuchung von Karsch et al. (submitted), die bei Sportstudierenden größtenteils positive Erfahrungen, eine optimistische Haltung zum späteren RuK-Unterricht und Vertrauensaufbau zu den Partner:innen sowie einen Abbau von Hemmungen aufzeigt.
Interessanterweise zeigt sich, dass insbesondere die Proband:innen mit Vorerfahrung erhöhte Aggressionswerte im Vergleich zu denjenigen ohne Vorerfahrung aufweisen, wobei hier keine Sozialisations- oder Selektionseffekte voneinander unterschieden werden können. Dies steht teilweise entgegen bisheriger Forschungsergebnisse, die bei fortschreitender Erfahrung eine Abnahme der Aggressionswerte herausfanden (Lamarre & Nosanchuk, 1999). Die Autoren beziehen sich hierbei auf eine jahrelange Ausübung von Kampfsport und den Erwerb des schwarzen Gurts, wohingegen vorliegend nur eine subjektive Selbsteinschätzung ohne Bezug zu einer konkreten Art der Erfahrung erfragt wurde. Die Teilnahme an kampfbezogenen Praxiskursen geht abseits dessen aber nicht mit einer Steigerung der Aggressivität einher.
Zukünftig wäre es gewinnbringend, die Ausprägung von Aggression im Vergleich zwischen Athlet:innen zu beobachten, die über längere Zeit jeweils unterschiedliche Kampfsportarten (z.B. Judo, Karate, Boxen, MMA), Kampfkünste (z.B. Aikido) und Selbstverteidigungssysteme (z.B. Krav Maga) betrieben haben. Außerdem müssten Selektions- und Sozialisationseffekte methodologisch voneinander unterschieden werden.
Limitativ für die vorliegende Studie ist vor allem der Übungsleiter:inneneffekt zu sehen, der nicht herausgerechnet werden kann und z.B. bei Liebl (2013) zu unterschiedlichen Entwicklungen der Empathiewerte zwischen zwei Jugendgruppen führt. Wenngleich bei Liebl (2013) Grundschulkinder untersucht wurden, bei denen ein größerer Einfluss des Lehrpersonals zu vermuten ist, kann der Lehrstil trotzdem die Entwicklungen der Teilnehmenden beeinflussen. Gleiches gilt für die Unterrichtsmethodik. Auch der Einfluss von Pandemierestriktionen ist schwer kalkulierbar, aber eventuell ein Grund dafür, warum die Proband:innen bereits im ersten MZP höhere Aggressionswerte aufweisen als die Vergleichsgruppen von Werner und Collani (2014). Die Beschränkungen führten in den kampfbezogenen Kursen z.B. dazu, dass keine Partner:innenwechsel erlaubt waren. Diese sind für gewöhnlich ein konstitutives Element, um sich in verschiedene Personen hineinzuversetzen und die eigene Technik und das eigene Kampfverhalten dementsprechend anzupassen.
Methodisch hätte die Aussagekraft außerdem durch eine Randomisierung der VG und KG sowie eine zusätzliche Kontrolle weiterer Einflussfaktoren wie zusätzliches Sportverhalten oder weitere relevante Aktivitäten gesteigert werden können. Der fehlenden Randomisierung wurde mit der Homogenitätsprüfung beider Gruppen begegnet. Auch die homogene Zusammensetzung der Proband:innen (Sportstudierende) erschwert die Verallgemeinerbarkeit. Vor allem beim Kämpfen können aufgrund der großen Partner:innenbezogenheit homogene Gruppen die Erfahrungsqualität beeinflussen.
Aus den Ergebnissen lassen sich neben den bereits erwähnten Forschungsansätzen verschiedene Implikationen für die Ausbildungspraxis ableiten. Die Resultate könnten mit den Studierenden reflektiert werden und dabei helfen, naive Entwicklungsannahmen durch RuK zu hinterfragen. Daneben können in diesen Reflexionsphasen durchaus Potenziale im Gegenstand und in der methodischen Umsetzung zur Entwicklung ebenjener Dimensionen identifiziert und gemeinsam reflektiert werden. Dies stünde auch im Einklang mit Liebl et al. (2016) und Funke-Wieneke (2019), die vor allem auf die persönlichkeitsbildenden Auswirkungen von Milieu und Trainer:innenstil verweisen.
Im Rahmen der Lehramtsausbildung bietet die differenzierte Reflexion naiver Entwicklungsannahmen im Zusammenhang mit eigenen praktischen Erfahrungen berufsbildende Potenziale, insbesondere hinsichtlich des Doppelauftrages des Schulsports. Die positive Auswirkung auf das Selbstwertgefühl der Frauen könnte praktische Folgen z.B. in der Etablierung von (monoedukativen) kampfbezogenen Angeboten zur Selbstwertsteigerung implizieren.

 

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DOI

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