Evaluierung des Glücksspielstaatsvertrags
95% aller in Deutschland getätigten Sportwetten befinden sich derzeit außerhalb des lizenzierten Marktes. Spieler wandern gerade im Bereich der Online-Spiele und Online-Wetten ins Ausland ab, weil ihnen in Deutschland schlicht ein vergleichbares Angebot fehlt. Mit ihnen gehen auch die fiskalischen Erträge und die Möglichkeit der Überwachung von exzessivem Spielverhalten oder Manipulation verloren. Hauptgrund dafür ist die äußerst prohibitive Regulierung des Glücksspiels, die ohne faktenbasierte Grundlage verschiedene Spielformen verbietet und bislang nicht dazu führte, dass sich private Sportwettenanbieter in Deutschland konzessionieren lassen konnten.
Mit der fehlenden Kanalisierung des natürlichen Spieltriebs in geordnete Bahnen scheitert auch die Möglichkeit der Spielsuchtbekämpfung. Grund dafür sind die europa- und verfassungsrechtlichen Mängel an der Glücksspielregulierung. Bereits 2010 hat der Europäische Gerichtshof die Inkohärenz des Deutschen Regulierungssystems kritisiert: Es passe nicht zusammen, wenn die Länder ihre Veranstaltungsmonopole bei Großen Lotterien und Sportwetten mit Suchtprävention begründeten und der Bund beispielsweise das gewerbliche Automatenspiel mit größeren Suchtgefahren Privaten überlasse. Die Länder beschlossen daraufhin zwar, den Sportwettenmarkt für private Anbieter zu öffnen; allerdings limitierten sie die Zahl der potenziellen Anbieter auf 20 und normierten weitere Konditionen, die den deutschen Glücksspielmarkt im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union weitgehend unattraktiv für private Anbieter erscheinen lassen. Geändert hat sich deshalb nur etwas in der Theorie, denn keine der 20 Lizenzen für private Glücksspielunternehmen wurde je vergeben.
Diese Situation nahmen der Deutsche Sportwettenverband und der Deutsche Onlinecasinoverband zum Anlass, erstmals eine faktenbasierte Evaluation des Glücksspielstaatsvertrags in Auftrag zu geben. Zu diesem Zweck haben Prof. Martin Nolte, Prof. Justus Haucap und Prof. Heino Stöver den Glücksspielstaatsvertrag aus dem Blickwinkel der Rechts-, Sport-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften auf Basis aussagekräftiger Fakten beurteilt. Ihre Ergebnisse aus der über 300 Seiten langen Veröffentlichung stellten sie anlässlich einer Pressekonferenz in Berlin vor.
Anhand der fünf Ziele, die sich der Glücksspielstaatsvertrag selbst setzt – Spielsuchtbekämpfung, Kanalisierung, Jugend- und Spielerschutz, Betrugs-und Kriminalitätsprävention sowie Wahrung der Integrität des sportlichen Wettbewerbs – zeigen die Autoren das Scheitern der derzeitigen Regulierung auf. Die Evaluierung zeigt: Keiner der fünf Punkte kann erfüllt werden. Besonders die fehlende Kanalisierung aufgrund des seit Jahren angewachsenen Grau- und Schwarzmarkts im Glücksspielwesen verhindert die Erfüllung aller anderen Ziele, denn ohne Kanalisierung ist der Schutz vor Sucht und Kriminalität nach dem Glücksspielstaatsvertrag nicht umsetzbar.
Gerade im Vergleich zu anderen EU-Ländern schneidet Deutschland bei der Kanalisierung des Glücksspiels extrem schlecht ab. Im Gegensatz zu Dänemark oder Großbritannien, die mit liberaleren Regulierungssystemen weitaus höhere Kanalisierungsraten (über 90%) erreichen, verhindert Deutschland durch seine marktwidrige Regulierung nahezu, dass Glücksspiel in geordnete und überwachte Bahnen gelenkt werden kann. Dass die Mehrheit der deutschen Spieler ungehindert und ohne rechtliche Konsequenzen bei ausländischen Anbietern, also im Grau- oder Schwarzmarkt, spielen kann, ist Ergebnis der fragilen Rechtsgrundlage des deutschen Regulierungssystems.
Beispielsweise entbehren das Spiellimit von 1.000€ Maximaleinsatz pro Monat, die Begrenzung auf 20 limitierte Anbieter oder das Verbot von Ereigniswetten nicht nur jeglicher empirischen Grundlange, sondern verhindern zudem weder das Entstehen von Spielsucht, noch schützen sie die Integrität des sportlichen Wettbewerbs. So mag das Verbot von Wetten auf bloße Ereignisse (anstelle von Ergebnissen) zwar einer natürlichen Perspektive geschuldet sein, wonach Ereignisse leichter manipulierbar erscheinen und deshalb als Gegenstände von Sportwetten ausscheiden sollten. Fakt ist jedoch, dass das Manipulationsrisiko nicht mit der vermeintlich leichten Beeinflussbarkeit eines Umstandes korreliert, sondern mit höheren Gewinnchancen bei geringerer Entdeckungswahrscheinlichkeit steigt. Beides ist bei Wetten auf Ereignissen tendenziell gering. Deshalb bezogen sich die Wettskandale der vergangenen Jahre regelmäßig auf Ergebnisse. Der Ausschluss von Wetten auf Ereignisse ist daher nur ein vermeintlicher Beitrag für den Schutz der Integrität des sportlichen Wettbewerbs, steht aber der Kanalisierung diametral entgegen. Ziel muss es daher sein, durch die Änderung des Glücksspielstaatsvertrags eine Grundlage für das Glücksspiel in Deutschland zu schaffen, die zur Lenkung des natürlichen Spieltriebs in geordnete und überwachte Bahnen beiträgt und damit das Erreichen aller weiteren Ziele überhaupt erst ermöglicht.
Als Fazit und als Forderung an die Politik nennen die Wissenschaftler nach dem Motto „weg von der Prohibition, hin zur Regulation“ sechs Punkte, die dazu beitragen, Glücksspiel in Deutschland funktionstüchtig und rechtssicher zu gestalten. Unter anderem fordern sie eine zentrale Glücksspielregulierungsbehörde, die engmaschige Kontrollen aller Glücksspielaktivitäten durchführt, ein funktionierendes Lizenzierungsverfahren für Sportwettenanbieter und ein benutzerfreundliches Identifizierungsverfahren für Kunden. Nur durch eine an den realen Bedingungen orientierte Neuordnung des Glücksspielmarktes können Anreize dafür geschaffen werden, die Glücksspielaktivitäten aus dem ausländischen Grau- und Schwarzmarkt wieder in den legalen deutschen Markt zurückzuführen, dort zu kanalisieren und hiermit die Grundlage für eine Erreichung der selbstgesetzten Ziele des Glücksspielstaatsvertrags zu schaffen.
Prof. Martin Nolte stellte die Evaluierung des Glücksspielstaatsvertrags gemeinsam mit seinen Mitherausgebern bei einer Pressekonferenz im Spiegelsaal von Clärchens Ballhaus in Berlin am 29. Mai 2017 der Öffentlichkeit vor. Die gesamte Studie können Sie sich hier herunterladen.