Was sind uns unsere Werte (noch) wert?
Was sind uns unsere Werte (noch) wert? Der DFB versteckt sich hinter den einschlägigen Regularien – und treibt so den Ausverkauf seiner Werte voran.
Am 19. Mai 2022 sagte die amtierende Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, in der ZDF-Sendung „maybrit illner“, die Ukraine sehne sich mit aller Kraft danach, Mitglied der EU zu werden. Und es sei beeindruckend, wie die Ukrainerinnen und Ukrainer „unsere Werte verteidigen, mit allem, was sie haben, bis zu ihrem Leben“. Unsere Werte mit dem Leben zu bezahlen – ein wahrlich hoher Preis.
So weit hätte der DFB bei der aktuellen Fußball-WM nicht gehen müssen. Es hätte gereicht, den Mannschaftskapitän trotz angedrohter Sanktionen mit der One-Love-Binde auf dem Platz auflaufen zu lassen – so wie es ursprünglich geplant und angekündigt war. Keiner der deutschen Fußballspieler müsste deswegen um sein Leben fürchten.
Dennoch hat der DFB – wie auch die Teams aus England, den Niederlanden, Belgien, Schweiz, Wales, Frankreich und Dänemark – nun einen Rückzieher gemacht und es damit versäumt, ein wichtiges Signal auszusenden: Wir lassen uns den Mund nicht verbieten, wir stehen für unsere Werte ein. Dabei geht es um Vielfalt, Offenheit, Toleranz, gegenseitigen Respekt – Werte, für die die One-Love-Binde steht und die man als Gesellschaft ohnehin erst einfordern kann, wenn die grundlegendsten existenziellen Bedürfnisse gesichert sind. Ob eine Kapitänsbinde überhaupt geeignet ist, diese Werte glaubhaft zu transportieren, erscheint an sich schon fraglich. Aus Angst vor möglichen Sanktionen (eine gelbe Karte wohlgemerkt, keine lebensbedrohliche Strafe) hat der DFB aber nunmehr selbst vom Tragen dieser Binde abgesehen – und damit seine eigenen Werte endgültig verraten. Der DFB und die europäischen Verbände hätten sich gemeinsam dem FIFA-Verbot widersetzen können, ja müssen, wenn sie es mit ihren Werten ernst meinten. Stattdessen zeigt sich nun: Es handelt sich um ein reines Lippenbekenntnis. Als solches könnte man deren Demonstration vor dem ersten Spiel gegen Japan, als die deutschen Spieler die Hand vor ihren Mund hielten, nämlich auch verstehen. Es genügt nicht, Werte nur zu propagieren. Werte müssen gelebt und verteidigt werden – und das erfordert Mut. Genau den hat der DFB aber vermissen lassen.
„Die Binde kann man uns wegnehmen, aber nicht unsere Werte“ so Oliver Bierhoff bei der Pressekonferenz am 21.11.2022. Die FIFA hat nun eindrucksvoll das Gegenteil bewiesen.
Dr. Caroline Bechtel ist Rechtswissenschaftlerin und hat sich auf das Sportrecht spezialisiert. Ihre Schwerpunkte in Praxis und Theorie betreffen die Sportschiedsgerichtsbarkeit, die Dopingbekämpfung und weitere Integritätsthemen. In ihrer Jugend war Bechtel mehrfach Jugend-Landesmeisterin im Weitsprung. In ihrer Kolumne „Absprung Bechtel“ widmet sie sich aktuellen Themen des Sports.