Wenn Sport und Staat sich berühren
Prof. Dr. Martin Nolte leitet seit 2014 das Institut für Sportrecht der Deutschen Sporthochschule Köln. Er beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel von Recht und Regeln im Sport, versucht ein Gleichgewicht herzustellen zwischen den Regelwerken der Verbände und dem geltenden staatlichen Recht. Seine eigene Leidenschaft für den Sport lebt er im Wald aus – Nolte ist Orientierungsläufer – und in gewisser Weise hat ihm das Waldrecht auch den Weg in die Forschung geebnet.
„Die Erholungsfunktion des Waldes“ – so der Titel der Dissertation von Martin Nolte aus dem Jahr 1997. Auf den ersten Blick erscheint sein Weg zum Sportrecht nicht eben geradlinig. Und doch hat er heute die einzige Professur für Sportrecht in Deutschland inne und leitet seit 2014 das Institut für Sportrecht an der Deutschen Sporthochschule. Für ihn selber ist sein Werdegang schlüssig: „Der Wald hat eine sportliche Dimension. Neben der wirtschaftlichen und ökologischen Funktion hat er nämlich auch die der Erholung; nicht nur die passive. Denken Sie an Sportarten wie Reiten oder Mountainbiken, die im Wald stattfinden. Im Waldrecht ist auch die Organisation von Sportveranstaltungen geregelt.“ Seine Habilitationsschrift trug schließlich den Sport im Titel: „Staatliche Verantwortung im Bereich Sport“. „Mich interessierte der Sport als Teil der Gesellschaft. Wie ist das Verhältnis zwischen Staat und Sport? Wo soll der Staat eingreifen, regulieren, Rahmenbedingungen schaffen, Strafen erlassen?“, erklärt der 53-Jährige.
Zum Sportrecht muss man wissen, dass es – anders als bei den allgemeinen Rechtswissenschaften wie etwa dem Staatsrecht oder dem Verwaltungsrecht – immer gilt, ein Gleichgewicht herzustellen. Und zwar zwischen den Regelwerken der Verbände und dem geltenden staatlichen Recht als deren Rahmen. Recht ist alles das, was vom Staat in Form von Gesetzen für das gesellschaftliche Miteinander vorgegeben ist. Dem Sport wird eine Selbstregulierungsbefugnis an die Hand gegeben, sodass sich Vereine und Verbände gründen und ihr eigenes Regelwerk schaffen können. „Auch wenn bei großen Wettkämpfen Staatssymbole wie Nationalflaggen wehen und Staatsoberhäupter Reden halten, bleiben es letztlich doch private Veranstaltungen, weil sie eben von Verbänden organisiert werden“, sagt Nolte. Der Sport ist also ein gesellschaftliches Subsystem. Mit dem Staatssystem kommt es immer dann in Konflikt, wenn es die Grenzen der Gesetze berührt oder überschreitet. Ein gutes Beispiel dafür ist Diskriminierung. In deutschen, europäischen und internationalen Gesetzen ist jede Form der Diskriminierung verboten. Wer sich diskriminiert fühlt, kann klagen. Nolte macht es anschaulich: „Die Ausländerklausel beschränkte die Anzahl von Ausländern in Mannschaften, zum Beispiel im Fußball. Verbände wie die Bundesliga wollten damit unter anderem eine höhere Identifikation der Spieler mit ihrem Team erreichen. Diese Regel stand aber im Gegensatz zur von der EU festgelegten Arbeitnehmerfreizügigkeit, was der europäische Gerichtshof als schwerwiegender bewertete als das Bestreben des Sportverbandes. Um also einer möglichen Diskriminierung entgegenzutreten, musste die Ausländerklausel abgeschafft werden.“
Mit Diskriminierung im Fußball beziehungsweise mit dem Kampf dagegen kennt Martin Nolte sich aus. In einem Handbuch gibt er rechtspraktische Hinweise und befasst sich mit Entscheidungen von Sportgerichten. Mit 6,8 Millionen Einzelmitgliedern in über 27 000 Fußballvereinen ist der organisierte Fußballsport in Deutschland der größte Sportfachverband der Welt. Groß ist also auch seine Verantwortung, herabwürdigende Äußerungen und Handlungen abzuwehren. Wie praktisch Noltes Zusammenstellung ist, zeigt ein Blick in das Stichwortverzeichnis. Schön ordentlich in alphabetischer Reihenfolge finden sich hier sämtliche Schimpfwörter, die je auf einem Fußballplatz gefallen sind. So erfährt man zum Beispiel auf Seite 46, dass „Itaker“ sich auf die Herkunft einer Person bezieht und eine eindeutig abwertende Konnotation hat. Da hilft es auch nicht, dass der Begriff im Zweiten Weltkrieg als anerkennende Bezeichnung für einen italienischen Kameraden gemeint war. Entscheidend ist, wie er heute gemeint ist. Damit fällt er unter das Diskriminierungsverbot.
Der Reiz des Sportrechts liegt für den Institutsleiter an den Stellen, an denen es gesellschaftliche Fragen berührt. Und die sind zahlreich. „Nehmen Sie Doping. Man könnte meinen, das gäbe es nur im Sport. Weitet man aber den Begriff auf den Bereich der unerlaubten Leistungssteigerung aus, könnte man den Insiderhandel an der Börse ohne Weiteres dazu nehmen. Da sind wir dann in der Wirtschaft.“ Vielen fällt als erstes das immer wiederkehrende und scheinbar uferlose Thema Korruption ein. Sportgerichte befassen sich damit genau wie staatliche Gerichte. Gewalt sei ein weiteres Thema, ergänzt Nolte. Die Beispiele im Sport, aber eben auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen seien zahllos. Gewalt gegen einen Menschen verletzt seine Würde; heute ist das unangefochten. Diesem Verständnis geht allerdings eine lange Geschichte voraus. Nolte wirft einen Blick in die Antike: „Bei den Olympischen Spielen im siebten Jahrhundert vor Christus war der Tod des Gegners eine von mehreren Möglichkeiten, den Sieg zu erringen. In der Moderne mag man darüber staunen, aber was ist mit Sportarten, die ein hohes Verletzungsrisiko bergen? Darf man Boxen ohne Handschuhe riskieren? Hier berühren wir eine Grenze, die vom Sportrecht ausgelotet werden muss.“
Als Martin Nolte 2014 die Leitung des Instituts antrat, formulierte er als Ziel „das wissenschaftliche Kompetenzzentrum im Sportrecht“ zu werden. Gefragt, ob das in den vergangenen sechs Jahren gelungen sei, steht er auf und greift in ein großes Bücherregal, das fast die gesamte Breite seiner Bürowand bedeckt. „Ich konnte mir damals nicht vorstellen, welche Themen wir hier behandeln würden.“ Mit den Augen betastet er die Buchrücken. In einem institutseigenen Verlag veröffentlicht er drei Schriftenreihen mit bislang 30 monographischen Abhandlungen, manche von ihnen über 500 Seiten stark. Außerdem gibt er mehrere (externe) Schriftenreihen im Sportrecht heraus und ist Kooperationspartner der führenden Sportrechtszeitschrift in Europa, Causa Sport. „Wir nennen es Wissenstransfer“, sagt Nolte. Dazu hat er das Curriculum für die Einrichtung der Fachanwaltschaft Sportrecht im Deutschen Anwaltsverein konzipiert und erstellt. Natürlich findet an Noltes Institut auch viel Grundlagen- und angewandte Forschung statt. In Drittmittelprojekten, häufig interdisziplinär ausgerichtet, evaluiert er mit seinem Team Sportregeln. Der Nationale Anti-Doping Code ist hier als prominentes Beispiel zu nennen. Er ist das zentrale Regelwerk im Bereich der Anti-Doping-Arbeit in Deutschland und setzt die internationalen Vorgaben des Welt Anti-Doping Codes (WADC) national um. Immer wieder geht es auch um das Verhältnis sportrelevanter Normen zu staatlichem Recht. Sportwetten und deren Regulierung seien hier exemplarisch erwähnt.
Professor zu sein, bedeutet nicht zuletzt auch, die Lehre im Blick zu behalten. 2016 führte die Sporthochschule den deutschlandweit ersten akkreditierten Masterstudiengang Sportrecht ein. Dieses Angebot ist eine Reaktion auf den steigenden Beratungsbedarf, der mit der Professionalisierung des Sports einhergeht. Dopingvorwürfe gegen Sportler*innen unterschiedlicher Disziplinen, Diskussionen um fragliche Vorteile von Hightech-Prothesen, trans- und intersexuelle Athlet*innen und die Frage, ob sie als Mann oder Frau antreten, aber auch enormen Kosten, die für die Öffentlichkeit aus Sicherheitseinsätzen der Polizei bei Fußballspielen entstehen, sind nur ein kleiner Ausschnitt von Themen, denen das Sportrecht begegnen muss. Komplexer werdende Rechtsfragen erfordern vertiefte Kenntnisse im Sportrecht. Weiterbildungsmöglichkeiten für Jurist*innen, die sich auf anspruchsvolle Sportthemen spezialisieren wollen, gab es bis dahin praktisch nicht. Nolte erstellt und digitalisiert Skripte und Reader zu sämtlichen Vorlesungen, nicht nur im Sport- sondern auch im Medienrecht und im Gesundheitssport. Er führt sogenannte Moot Courts durch, fiktive Gerichtsverhandlungen, in denen angehende Sportrechtler*innen den Ernstfall üben können. Auch Schiedsrichter*innen, die im Sport auf die Einhaltung der Regeln achten, können sich von Martin Nolte schulen lassen.
Abgesehen von dem, was der gebürtige Lübecker für sein Institut tut, zeigt er einem breiteren Publikum, was alles in seinem Fachgebiet steckt. Zwischen 2009 und 2011 verfasste er die Sport-Kolumne „Aufschläge“ für das Handelsblatt. Er schrieb über Oligarchen im Profifußball, den Kuhhandel bei der WM-Vergabe, gewalttätige Fans und Prügeleinsätze der Polizei, Olympiabewerbung und bayerische Bauern, Doping in der DDR oder verfeindete Staaten im friedlichen Wettkampf – kurz: alles, was nicht nur sportliche Gemüter erhitzt und leidenschaftliche öffentliche Debatten lostritt.
Martin Nolte produziert gewaltige Mengen Gedanken, Ideen und Konzepte. Sein Beruf ist ein geistiger. Aber nicht nur. Vieles von dem, was erst auf geistiger Ebene stattfindet, mündet schließlich in sichtbaren, praktischen Ergebnissen. Wenn er beispielsweise mit der Deutschen Sportjugend einen Leitfaden entwickelt, um die rechtspopulistische Unterwanderung des Sports in den neuen Bundesländern zu verhindern, folgt der Theorie eine spürbare Veränderung. Sie wird messbar sein.
Es kann einem schwindelig werden angesichts der Fülle der Themen und Aufgaben, denen sich Nolte verschrieben hat. Vielleicht muss das so sein. „Es gibt im deutschsprachigen Raum keine vergleichbare Einrichtung. Wir wollen Anlaufstelle für den organisierten Sport sein.“ Es sieht so aus als laute die Antwort auf die Frage, ob das 2014 formulierte Ziel erreicht sei, eindeutig ja. „Wir erhalten die Anerkennung Dritter“, formuliert Nolte es bescheiden. „Wir haben viele Kooperationen mit staatlichen Stellen und privaten Sponsoren. Das zeigt vielleicht, dass wir als Experten auf dem Gebiet des Sportrechts anerkannt sind.“ Ja, vielleicht, möchte man ergänzen. Möglicherweise aber auch ganz sicher.
Dem Wald ist Martin Nolte in gewisser Weise treu geblieben. Der Orientierungslauf, eine Sportart, die in der Natur stattfindet, ist seine große Leidenschaft. Von 1983 bis 1988 war er Mitglied der Nationalmannschaft, noch immer ist er aktiv. Beim Orientierungslauf sucht sich der Läufer seine Route im Gelände selber – mit Landschaftskarte und Kompass. Das erfordert ein hohes Maß an geistiger und körperlicher Fitness. Erst denken, dann machen. Kann man sich eine passendere Sportart für Martin Nolte vorstellen?
Text: Anna Papathanasiou Quelle: Deutsche Sporthochschule // Forschung Aktuell // Nr.5/2020