Zur Bildung eines wissenschaftlichen Habitus
Kommentar zu Poweleit und Ohlert
Volker Schürmann
ZUSAMMENFASSUNG
Jedes Universitätsstudium, und so auch das Lehramtsstudium, ist per Definition eine wissenschaftliche Ausbildung. Deshalb macht es guten Sinn, Lehrveranstaltungen zum wissenschaftlichen Denken und Arbeiten zu integrieren. Solche Techniken und Methoden zu beherrschen, macht aber allein noch keinen wissenschaftlichen Habitus aus. Ein solcher Habitus bildet sich auch, wenn er sich denn bildet, in allen anderen Lehrveranstaltungen heraus, die wissenschaftliches Denken und Arbeiten nicht explizit zum Thema haben. Solche Techniken und Methoden sind auch nicht nur nötige Hilfsmittel, um ein Studium erfolgreich zu absolvieren. Vielmehr liegt in der angezielten Bildung eines wissenschaftlichen Habitus das Versprechen, dass die spätere berufliche Lehrtätigkeit an der Schule im Geiste der Wissenschaft anders (und besser) abläuft als im Geiste rein gewohnter Erfahrung. Der Beitrag ist daher ein Plädoyer, die Bildung eines wissenschaftlichen Habitus als das organisierende Zentrum jedes (Lehramts-)Studiums zu kultivieren.
Poweleit und Ohlert (2023) legen verdienstvoller Weise eine erste empirische Erhebung zur Zufriedenheit von Studierenden mit Lehrangeboten zum wissenschaftlichen Denken und Arbeiten im Lehramtsstudium vor. Im Abschnitt 4. Diskussion und Ausblick machen sie auf dieser Grundlage erste Vorschläge für eine konzeptionelle Weiterentwicklung dieser Lehrangebote und für ergänzende Angebote. Pragmatischer und naheliegender Weise konzentrieren sie sich dabei auf die direkten Lehrangebote zum wissenschaftlichen Denken und Arbeiten sowie auf ergänzende Unterstützungsangebote für Studierende, und zwar im Hinblick auf die „Prozesse“ der wissenschaftlichen Tätigkeit (ebd., S. 16), genauer auf die Techniken des wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens. Demgegenüber möchte ich den Blick auf mögliche Konsequenzen für die anderen, die ›normalen‹ Lehrveranstaltungen richten, in denen solche Techniken nicht direkt, sondern implizit vermittelt werden. Zudem nehme ich die Perspektive eines Lehrenden, nicht eines Studierenden ein.
ZUR BILDUNG EINES WISSENSCHAFTLICHEN HABITUS
Erklärtermaßen betten sich die Prozesse des wissenschaftlichen Denkens und des wissenschaftlichen Arbeitens in die Bildung eines „wissenschaftlich-reflexive[n] Habitus“ bzw. einer „Grundhaltung“ ein (ebd. 16). Bei Kleinert und Pels (2020), auf die sich Poweleit und Ohlert u.a. beziehen, ist dieser Punkt noch deutlicher, da dort explizit drei Momente unterschieden werden: „Wissenschaftlichkeit setzt sich aus (1) einer wissenschaftlichen Grundhaltung sowie (2a) wissenschaftlichem Denken und (2b) wissenschaftlichem Arbeiten zusammen“ (Kleinert & Pels, 2020, S. 31). Nimmt man diese Dreiheit ernst, dann heißt das: Jemand kann die Techniken des wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens sehr gut beherrschen, aber das allein sichert weder die Bildung eines wissenschaftlichen Habitus noch sichert es, einen ggf. in wissenschaftlicher Tätigkeit gebildeten Habitus auch außerhalb dieser Tätigkeit, also etwa im Alltag oder als Lehrende*r im Schulunterricht, an den Tag zu legen. Hier liegt der Bezug zu den anderen Lehrveranstaltungen: Jene Dreiheit bedeutet auch, dass sich ein wissenschaftlicher Habitus, falls er sich denn bildet, nicht nur und auch nicht zwingend durch das Lernen und Einüben von Techniken des wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens bildet. Genauso wichtig dürfte dafür die Art und Weise sein, wie man in gewöhnlichen Lehrveranstaltungen wissenschaftliche Inhalte gelehrt bekommt und selbst lernt. Hier entspringt die Vermutung, dass Lehrende mit ihrer eigenen wissenschaftlich-reflexiven (Un-)Haltung ein Vorbild für die Bildung studentischer Haltungen sind (vgl. Poweleit & Ohlert, 2023, S. 17).
Wir alle sind vermutlich mit den Fällen vertraut, in denen gutes Beherrschen von Techniken und Methoden noch keine reflexive Grundhaltung ausmachen: Wer gut gelernt hat, wissenschaftliche Literatur zu recherchieren und zu beurteilen, muss das noch lange nicht bei der Lektüre der Boulevardpresse praktizieren. Wer gut gelernt hat, wissenschaftliche Literatur zu beurteilen und den eigenen Unterricht gut zu planen, der oder die kann das in indoktrinierender Weise einsetzen, also im Anliegen, dass die Schüler*innen die ihnen vorgelegten Texte genauso beurteilen sollen wie man selbst. Wenn jemand die Techniken des Zitierens und Bibliographierens in Perfektion lernt, muss das kein reflexiver Habitus sein, sondern es kann auch das Verhalten eines Regelbefolgungsautomaten sein.
Jene Dreiheit, also die relative Eigenbedeutsamkeit von Habitus gegenüber den Prozessen des wissenschaftlichen Denkens und des wissenschaftlichen Arbeitens, ist exakt der Grund, warum hier überhaupt von Habitus die Rede ist, und macht aus, was Haltung bedeutet (vgl. Guthoff & Landweer, 2010). Haltung bedeutet eben die Haltung, die Art und Weise, wie man einen Prozess perfekt oder weniger perfekt vollzieht. Beim gewöhnlichen Tun gibt es diesen Unterschied zwar auch, aber er verschwindet sozusagen. Eine Haltung wird dann sichtbar, wenn sie sich ›bewähren‹ muss – wenn es in einer Lehrveranstaltung scheinbar einfacher und „zielführender“ ist, nur die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie zu referieren, nicht aber den Weg, den methodos, auf dem diese Ergebnisse gewonnen wurden. Eine wissenschaftliche Haltung zeigt sich dann darin, es trotzdem zu ›erschweren‹ und auch den Weg zu den Ergebnissen zu referieren. Eine Haltung gebildet zu haben, hat damit eine sachliche Nähe zu dem, was wir auch „Rückgrat“ nennen. Das mit Haltung synonyme Wort Habitus macht demgegenüber eher kenntlich, dass eine Haltung eingeübt und zur Gewohnheit, zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Für das, was gemeint ist, kommt es selbstverständlich nicht auf eine bestimmte Theorie (etwa die von Bourdieu) und auch nicht auf das Wort an. Die Olympische Charta beispielsweise nennt es „philosophy of life“, also eine Haltung im Leben zum Leben.
Diese sachliche Dreiheit, also die Eigenbedeutsamkeit von Habitus, hat die für die wissenschaftliche Lehre ›unangenehme‹ Konsequenz, dass eine solche Haltung nicht ausgebildet werden kann – sie bildet sich um, oder sie bleibt wie sie gerade ist. Lehrende können den Studierenden keinen bestimmten Habitus beibringen, denn so etwas ist nicht herstellbar.[1] Wäre ein Habitus herstellbar, wäre ein Regelbefolgungsautomat nicht von einer Person mit reflexiver Grundhaltung unterscheidbar. Deshalb muss die Formulierung auch schärfer sein: Es spricht viel Erfahrung dafür, dass es nicht recht gelingt, bei anderen einen wissenschaftlichen Habitus herzustellen; aber viel wichtiger und entscheidender ist, dass man einen solchen Habitus nicht herstellen wollen soll und darf. Die Bildung eines Habitus ist Selbst-Bildung – oder sie ist nicht Bildung, sondern Dressur. Das exakt meint Freiheit, Mündigkeit, Selbstbestimmtheit der Lernenden. Deshalb ist die Bildung eines Habitus eine Umbildung: Eine Haltung zur wissenschaftlichen Tätigkeit kann man nicht nicht haben – und sei es die der Gleichgültigkeit oder die eines Fähnchens im Winde. Aber nicht jede Haltung zur wissenschaftlichen Tätigkeit ist schon eine wissenschaftliche Haltung. Deshalb ist es das Anliegen wissenschaftlicher Lehre, die je schon eingenommenen Haltungen zu einer wissenschaftlichen Haltung zur Wissenschaft umzubilden. Das Hauptcharakteristikum einer solchen Haltung dürfte sein, um die grundsätzliche Perspektivität von Wissenschaft zu wissen und diese Einsicht ›zu leben‹. Es geht dann um jenes schon benannte ›Erschweren‹ von Sachlagen, indem transparent gemacht wird, dass jede wissenschaftliche Analyse eine begründete Antwort auf eine Frage ist, die auch – durch andere Anlässe, Theorien, Methoden, Zwecksetzungen – anders begründete Antworten zulässt. Es könnte ein Qualitätskriterium von Lehrveranstaltungen sein, ob und wie es gelingt, gemeinsam miteinander je individuell ein solches wissenschaftliches Rückgrat zu bilden.
[1] Das Problem ist alt und lange bekannt. Schon Platon thematisierte, ob gute und anzustrebende Tugenden lehrbar sind und beantwortete diese Frage „nicht mit einem klaren ›Ja‹" (Stemmer, 1998, Sp. 1537).
KOMMENTAR ZU POWELEIT UND OHLERT
Dass Poweleit und Ohlert (2023) aus pragmatischen und gut nachvollziehbaren Gründen die Einbettung der wissenschaftlichen Tätigkeit in einen Habitus zwar benennen, aber nicht in der Klarheit als eine Dreiheit herausstellen, hat einen gedanklichen Preis, den ich im Folgenden herausstellen möchte. Dabei geht es mir nicht um Kritik an diesem Text – es gibt dort, wie schon zweimal gesagt, pragmatische und gut nachvollziehbare Gründe. Vielmehr dient der Text als eine Art Sprungbrett.
„Mit dem Ziel eines akademischen Abschlusses ist nicht nur eine methodisch-didaktische, sondern auch eine wissenschaftliche (Aus-)Bildung von Bedeutung“. Dieser Satz findet sich gleich zu Beginn der Einführung und Problemstellung (Poweleit & Ohlert, 2023, S. 16). Jeder und jede versteht, was gemeint ist, und jeder und jede versteht auch die Berechtigung der dort vorgenommenen Unterscheidung. Und doch drängt sich bereits hier die Nachfrage auf, ob denn nicht auch die methodisch-didaktische (Aus-)Bildung eine wissenschaftliche (Aus-)Bildung sein soll oder muss. Das ist, zugegeben, etwas kleinkariert, denn der gesamte Text bekundet schließlich, dass es so gemeint sei, und dass es sich lediglich um „eine analytische Trennung“ handele, wie man dann so sagt. Auf der nächsten Seite (ebd., S. 17) findet sich dann allerdings ein klares einerseits/andererseits. Dort neigt die analytische Trennung de facto schon zu einer Unterscheidung zweier verschiedener Dinge: „ein pädagogisch-praktisches Können“ einerseits, „eine wissenschaftliche Reflexivität“ andererseits. Auch dort fallen diese beiden Aspekte nicht einfach auseinander, da sie dort als zwei Aspekte „einer doppelten Professionalisierung“ thematisiert werden. Gleichwohl macht sich hier geltend, dass im Text lediglich eine doppelte wissenschaftliche Tätigkeit – wissenschaftliches Denken und wissenschaftliches Arbeiten – thematisiert wird, nicht aber eine Dreiheit von Habitus, Denken und Arbeiten. Es ist eben kein „doppelter“, sondern ein Habitus, der Denken einerseits und Arbeiten andererseits „ständig wechselseitig miteinander verknüpft“ sein lässt (Kleinert & Pels, 2020, S. 32; zit. b. Poweleit & Ohlert, 2023, S. 16).
Ob dieses Insistieren auf dem Unterschied von drei Momenten eines Sachverhalts und zwei Aspekten einer Doppelheit einen sachlichen Unterschied macht oder eine Kleinkariertheit bleibt, wird dann sehr bald Thema im Text von Poweleit und Ohlert. Kleinert und Pels hatten sportwissenschaftliche Studiengänge außerhalb der Lehramtsstudiums thematisiert. Für solche Studiengänge hatten sie stark gemacht, dass „die Vermittlung von Wissenschaftlichkeit – wo möglich – in das fachliche Lernen integriert sein“ soll (Poweleit & Ohlert, 2023, S. 21). Dieses Anliegen macht stark, dass sich ein wissenschaftlicher Habitus nicht nur, vielleicht nicht einmal primär, beim Lernen und Einüben von Techniken des wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens bildet, sondern auch, und vielleicht gerade, im fachlichen Lehren und Lernen.
Ist es nicht selbstverständlich, dass dies gerade keine Besonderheit spezifischer Studiengänge ist, sondern das Merkmal eines wissenschaftlichen Studiums generell ist bzw. sein soll? Poweleit und Ohlert (ebd.) sind hier anderer Meinung – und hier ist es dann doch auch eine Kritik an diesem Text. Sie schließen nämlich ganz direkt wie folgt an: „Gewiss kann dieser Ansatz [von Kleinert und Pels] nicht eins zu eins für das Lehramtsstudium übernommen werden und wäre auf Basis der vorhandenen, spezifischen Strukturen zu modifizieren.“ Mir ist nicht klar, woher jene Gewissheit kommt, dass die Vermittlung von Wissenschaftlichkeit im Lehramtsstudium nicht in das fachliche Lernen integriert werden soll. Der pure Umstand, dass die Lehramtsausbildung die Form eines Studiums hat, heißt, dass es eine wissenschaftliche Ausbildung ist bzw. zu sein hat. Ein Studium, und so auch ein Lehramtsstudium, ist gelungen, wenn es in der Vermittlung von Techniken, von Methoden, von Theorien, von Fachwissen und von methodisch-didaktischem Wissen das Sich-Bilden einer wissenschaftlichen Grundhaltung kultiviert. Ein Studium hat das Selbstbild vieler Studierender (und Lehrender) zu irritieren, die sich gewöhnlich im späteren Berufsleben „als praktizierende Lehrkräfte, die primär Lehrerfahrungen benötigen“ (ebd., S. 17; vgl. S. 22) sehen. In einem Studium muss erfahrbar werden, dass praktizierende Lehrkräfte mit reflexivem Habitus anders lehren als ohne einen solchen.
Mir scheint deshalb auch in Lehramtsstudiengängen alles oder doch vieles darauf anzukommen, gerade die „methodisch-didaktische (Aus-)Bildung“ (s.o.) im Geiste der Wissenschaftlichkeit zu lehren und zu lernen. Die Alternative wäre das Lehren und Lernen von Rezepturen, die morgen schon wieder veraltet sein können. Was das genau heißen soll, ist „gewiss“ ein hartes Brot. Aber immerhin besteht Einigkeit im Anliegen: „In Form einer realitätsprüfenden, forschungsorientierten Grundhaltung sollte es zu einem Selbstverständnis werden“ – und wo möglich auch zu einem Habitus, zu einer Selbstverständlichkeit –, „die Welt durch verschiedene Perspektiven zu betrachten“ (ebd., S. 22).
Guthoff, H. & Landweer, H. (2010). ›Habitus‹. In H.J. Sandkühler (Hrsg.). Enzyklopädie Philosophie. In drei Bänden mit einer CD-ROM (S. 961-967). Meiner.
Kleinert, J. & Pels, F. (2020). Nicht nur für’s Labor – Die Bedeutsamkeit und Vermittlung wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens im Rahmen des Sportstudiums am Beispiel von ›Werkstatt Wissenschaft‹. Zeitschrift für Studium und Lehre in der Sportwissenschaft, 3(1), 30-36.
Poweleit, A. & Ohlert, J. (2023). Wissenschaftliches Denken und
Arbeiten im Sport-Lehramtsstudium: Zufriedenheit und gewünschte Zusatzangebote. Zeitschrift für Studium und Lehre in der Sportwissenschaft, 6(1), 15-23. doi.org/10.25847/zsls.2021.054
Stemmer, P. (1998). ›Tugend, I. Antike‹. In J. Ritter, K. Gründer, G. Gabriel (Hrsg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10 (Sp. 1532 1548). Schwabe.